Gesellschaft | Tobias Wunschik: Knastware für den Klassenfeind
Wer im Westen eine Praktica oder Exakta erwarb, wusste um ihre Ostproduktion. Auch bei Billy-Regalen und beim ein oder anderen Buch konnte, wer wollte, die Herkunft erahnen. Doch kaum jemand wird sich zur Produktion Zwangsarbeit in Ostgefängnissen vorgestellt haben. Tobias Wunschik schafft mit ›Knastware für den Klassenfeind‹ die Grundlagen für eine notwendige Debatte. Von PIEKE BIERMANN
Nicht mal der »antifaschistische Schutzwall« (1962-1989) verhalf Walter Ulbrichts Plan, die DDR-Wirtschaft »störfrei«, nämlich vom Westen unabhängig zu machen, zum Sieg. Die Verflechtung der beiden deutschen Ökonomien wurde, im Gegenteil, durch die Entspannungspolitik der 70er Jahre noch enger, sowohl kleinmaschiger als auch großflächiger. »Wandel durch Handel« ist ja nicht nur in Kalten Kriegen ein durchaus vernünftiges Motto. Dabei wird selbst Menschenhandel zum humanitären Akt – in diesem Fall zumindest für die knapp 34.000 freigekauften Häftlinge und ihre Angehörigen –, auch wenn er dem Regime geschätzte 3,5 Milliarden D-Mark in die Kriegskasse gespült hat.
Ab den 70er Jahren, dem Beginn der Ära Honecker, lassen immer mehr Unternehmen aus dem »Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet« Einzelteile oder ganze Produktpaletten zu Dumpinglöhnen Ost herstellen: Industriebetriebe wie Handelsketten, feine Firmen wie Billigheimer. Ältere Mitbürger (West) erinnern sich noch an heiteres Wettraten, welches ihrer Billy-Regalbretter wohl von VEB-Kräften gefertigt worden war. Hobby-Investigatoren versuchten per Textanalyse zu ermitteln, welches Buch aus einem keineswegs DKP-nahen West-Verlag nicht nur in der DDR gesetzt, gedruckt und gebunden, sondern obendrein realsozialistisch »korrekturgelesen« worden war. Und wer mit angelsächsischen Politthrillerwassern gewaschen war, spielte ebenso genüsslich durch, ob nicht vielleicht der ganze Literaturbetrieb West »nebenbei« als Geldwaschanlage fungierte: Wenn man so an Suhrkamp dachte, an Investoren mit Verbindung zur nummernkontenreichen Union de Banques Suisses … Soviel Ausgewogenheit musste sein. Ach, was konnte man unbeschwert gedankenspielen damals, in den 80er Jahren.
Harte Zahlen, viele Zeugenaussagen
Heute, nach diversen Steuern-Schwarzgeld-Börsen-Krachern klingeln beim Begriff »Schweizer Banken« eher schrille Alarmglocken, und über VEB-Waren mit Westsiegel kichert auch kaum noch jemand. Denn seit Studien ab 2003 aufdeckten, dass viele jener Waren auch von Häftlingen produziert worden waren, ist die Sache nicht mehr so heiter. Tobias Wunschik, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen (BStU), hat dazu jetzt die bisher umfassendste Forschungsarbeit vorgelegt. Nach seiner Schätzung bezog die DDR in den 80er Jahren allein durch »Knastware« etwa 200 Millionen DM jährlich vom »Klassenfeind«.
Das Skandalon ist nicht, dass Gefängnisinsassen die mitproduziert haben. Häftlinge dürfen arbeiten, und viele wollen das auch: Es bringt ein paar Kröten und befreit ein paar Stunden von der engen Zelleneinsamkeit. Skandalös ist zum einen, dass bis heute kaum eine Westfirma davon gewusst haben will – denn es wirft die Frage nach Entschädigungen auf –, und zum anderen, dass auch politische Häftlinge eingesetzt wurden, und zwar zwangsweise, zu noch mieseren Löhnen als die »gewöhnlichen Kriminellen« und oft unter Gefahr für Leib und Leben. Wunschik belegt das anhand dreier exemplarischer DDR-Knäste mit harten Zahlen und vielen Zeugenaussagen. Er referiert auch den Forschungsstand und benennt die Lücken – zum Beispiel, dass praktisch alle Arbeitsnachweise von vor 1970, die für Entschädigungsforderungen wichtig wären, verschwunden sind.
Spannender Stoff, notwendige Diskussion
Ein anderes, makabres Beispiel macht, ganz nebenbei, sehr anschaulich, welchen Wandel der West-Handel offenbar bei den Ost-Wirtschaftsplanern selbst bewirkt hat. Die verwandeln sich dem Klassenfeind so problemlos an, dass sie Mitte der 80er zur strategisch-spekulativen Perfidie des kapitalistischen Warentermingeschäfts aufschließen können: Als im Westen wegen AIDS die Blutkonserven knapp werden, verscherbeln sie ungerührt keineswegs freiwillig gespendetes Blut aus einer Haftanstalt über Schweizer Kanäle ans Bayerische Rote Kreuz: Als Konserven mit West-Etiketten, aber ohne korrekte Quellennachweise und Tests. Während gleichzeitig Blutplasma trotz relativer Spendenfreude auch im eigenen Land knapp ist.
Gut 360 Seiten harten Stoff hat der Historiker in nur einem Dreivierteljahr Recherche zusammengetragen. Aber vielleicht hätten er oder die BStU oder der Verlag sich doch etwas mehr Zeit nehmen und ein etwas flüssiger zu lesendes Buch daraus machen sollen. So erinnern die kleinen Zahlen in jeder dritten, vierten Zeile und die Fußnotentürme auf jeder Seite an den guten alten Unispott: Der eigene Satz ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Zitaten, mutet der Text an wie eine von Plagiatspanik überschattete Dissertation. Das ist schade. Denn es ist eigentlich spannender Stoff und wichtiger obendrein: nicht nur für die auf Entschädigung hoffenden Betroffenen, sondern für die Öffentlichkeit, die darüber mitreden können sollte.
Eine erste Version der Rezension wurde am 26. März 2014 bei Deutschlandradio Kultur veröffentlicht, ein Gespräch mit Pieke Biermann ist als Audio on Demand verfügbar.
Titelangaben
Tobias Wunschik: Knastware für den Klassenfeind. Häftlingsarbeit in der DDR, der Ost-West-Handel und die Staatssicherheit (1970-1989)
[Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), Band 37]
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014
363 Seiten. 29,99 Euro (eBook 23,99 Euro)