Kulturbuch | Julia November: Kaufen Sie noch ein Los, bevor wir abstürzen
»Wieder so ein Buch, das vermeintlich lustig, die Höhen und Tiefen eines Berufsstandes auslotet!« Dieser Gedanke schoss Vielflieger JÖRG FUCHS beim ersten Blick auf das quietschbunte Cover des Buchs ›Kaufen Sie noch ein Los, bevor wir abstürzen‹ durch den Kopf. Auch der Klappentext versprach zunächst kaum mehr als leichte Unterhaltung. Ein vorschnelles Urteil! Denn bei näherer Betrachtung offenbaren die Schilderungen des Pilotenalltags viel mehr als nur persönliche Befindlichkeiten. Sie geben Einblicke in eine Gegenwelt, in welcher der oft romantischen Vorstellung von der Freiheit über den Wolken radikal die Flügel gestutzt werden.
Nein, weitere Wortspiele zum Thema Fliegen werden wir uns an dieser Stelle verkneifen – auch wenn das Buch zahlreiche Steilvorlagen dazu bietet: Unter dem an das Alphabet der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO) angelehnte Pseudonym ›Julia November‹ schreibt sich die einst bei einer Billigfluglinie angestellte Pilotin ihren Frust über Arbeitgeber und Berufsstand von der Seele. Dabei kommen zunächst die unvermeindlichen Klassiker des Berufslebens aufs Tapet, die sich in jeder anderen Branche in ähnlicher Weise finden lassen: Die verkorkste und alkoholbefeuerte Weihnachtsfeier im Januar, amouröse Abenteuer am Arbeitsplatz, fragwürdige KollegInnen sowie die Höhen und Tiefen der täglichen Jobroutine.
Zwischen Routine und Ausnahmezustand
Das könnte uns auf die Idee bringen, es hier mit einem weiteren, locker geschriebenen und schnell vergessenen Bericht über den ungeliebten Arbeitsalltag zu tun zu haben – wären da nicht die Abgründe, die dunklen Seiten des Jobs, in deren Tiefen die Autorin mal mehr, mal weniger weit hineintaucht. Sexuelle Belästigung, Erfolgsdruck und Uniformität potenzieren sich in einer Umgebung, die kaum Ausweichmöglichkeiten zulässt, rasch zu einem unappetitlichen Gemenge und führen zu teils skurrilen, teils unheimlichen Begebenheiten in einer Arbeitssituation, die zwischen Lässigkeit, Statusdenken und Ausnahmezustand changiert.
Die fehlenden Ausweichmöglichkeiten beschränken sich dabei nicht auf die klaustrophobische Enge des Flugzeugkörpers: Die gesamte Welt des Fliegens, die sich hinter einem gigantischen Sicherheits- und Technikapparat verschanzt und dort – oft ohne Wissen des unbedarften Flugreisenden – wuchert, bildet einen Kosmos, für den ganz eigene Regeln gelten. Auch wenn sich das Fliegen seit einem halben Jahrhundert als Massenbewegung etabliert hat, ähnelt die »Airworld«, diese Parallelwelt über und unter den Wolken, für Außenstehende einem magischen Zirkel. Starre Regeln, eigene Sprache undurchschaubare Rituale und zur Schau gestellter Habitus sorgen für die Abgrenzung zur Lebenswelt der »Bodenbewohner«. Hier zeigen sich die Stärken des Buches: ›Julia November‹ gelingt es, in ihren Schilderungen die beinahe kindliche Begeisterung für das Fliegen, das bei vielen PilotInnen sehr ausgeprägt zu sein scheint, kippen zu lassen. Und zwar nicht nur in die starre Ödnis einer banal-einförmige Routine, die das moderne Fliegen bei geregeltem Ablauf mit sich bringt.
Die starren Regeln der »Airworld«
An diesen Bruchstellen der Schilderungen setzen die Beklemmungen des Lesers ein, die dem ansonsten eher leicht verdaulichen und auch zumeist vergnüglichen Plauderton des Buches subtil zuwiderlaufen. Denn die Autorin versucht nicht, die Regeln dieser »Airworld« zu demaskieren – zu einfach wäre dieser Versuch: Dazu sind diese zu starr und zu sehr inthronisiert. Vielmehr lässt sie fast beiläufig die kalten Mechanismen dieser durchrationalisierten Funktionswelt auf die Menschen treffen, die sich diesem System – oft ohne darüber zu reflektieren – unterordnen. Der Aufprall dieser Begegnung hallt dadurch umso lauter nach.
Die Ergebnisse dieser Ungleichheit zwischen Mensch und System sind drastisch: Hierarchien, die sich hinter Uniformen verstecken, werden gnadenlos zur Erreichung des eigenen Vorteils, sei es Karriere oder schneller Sex, ausgenutzt. Die menschenfeindliche Haltung der auf Maximalertrag getrimmten Unternehmensleitung setzt sich schnell nach unten fort und trifft auf die Schwachen der »avionischen Nahrungskette«: Behinderte Reisende, Familien, einfaches Personal. Für diese ist in den starren Reglementierungen der »Airworld« wenig Platz. Vor allem nicht, wenn – wie im geschilderten Fall – lediglich das zynische Mantra des Profitstrebens um jeden Preis die Leitlinie des Handelns bestimmt.
Letztlich geht es diesem System auch nicht um die Eingliederung in andere Komplexe. Schnittstellen gibt es nur dort, wo sie unvermeidlich sind: Flughäfen, längst nicht nur von den Kulturwissenschaften als »Nicht-Orte« klassifiziert, dienen nur als leidlich zivilisatorisch geschmückte Transiträume, die nur ein Ziel haben: Den Umschlag von möglichst vielen Menschen und die schnellen Umlaufzeiten der Flugzeuge zu garantieren. Alles, was diesen Forderungen nicht gerecht wird – individuelles Tempo, natürliche Notwendigkeiten und persönliche Ansprüche – läuft Gefahr, im wahrsten Sinne des Wortes, überrollt, durch die Mangel gedreht oder achselzuckend ignoriert zu werden.
Mahnende Beispiele, wie den Rollstuhlfahrer, der im Flugzeug vergessen wird, da es keine Dienstvorschrift für den Ausnahmefall gibt, zeigen, dass der menschliche Faktor in der »Airworld« im besten Falle unsichtbar bleibt, im schlimmsten Falle jedoch zum Störenfried eines organisatorischen Räderwerks wird.
Für Naturerlebnisse bleibt in dieser technisierten Welt »naturgemäß« ebenfalls wenig Raum: Wolkenbilder, die anfangs faszinieren, nutzen sich als Naturkulisse in kürzester Zeit ab, Vogelschwärme, als Konkurrenten und Störenfriede im Funktionsraum der »Airworld«, bleiben als zerfetze und verbrannte Klumpen zurück – nicht ohne vorher Mensch und Maschine in Gefahr gebracht zu haben.
Schmerzhafte Rollenwechsel
Auch der Mensch, sei es Fluggast oder Mitarbeiter, bleibt von den Tranformationsprozessen dieser Parallelwelt nicht unbeeinflusst und wird nach dem Auswurf aus dem System immer wieder schmerzhaft auf sich zurückgeworfen. Wie schwer vielen Beteiligten diese Rollenwechsel fallen, schildert die Autorin in Anekdoten, die mal unterhaltsam, mal abschreckend daherkommen. Vor allem die Uniformität der Angestellten, hinter der der individuelle Mensch nur scheinbar verschwindet, wird im »bodenständigen« Leben immer wieder zur Projektionsfläche in positiver und negativer Hinsicht.
Die durchweg lebendigen Schilderungen der Pilotin sollten nun nicht im Einzelnen verallgemeinert werden. Viele Sachverhalte und Begegnungen treffen vor allem auf ihren speziellen Einsatzbereich zu. So manche Geschichte – wie die über die Notfallaxt im Cockpit, die beim Sicherheitscheck negativ auffällt – ist Bestandteil jedes guten Pilotenlateins.
Das sind die Stellen im Buch, die uns unterhalten, die aber auch ablenken. Ablenken von der Ahnung, die uns beim Lesen immer öfters beschleicht – dass es im perfektionierten Komplex der »Airworld« viele Bruchstellen gibt, die das nach außen so durchreglementierte und vereinheitlicht wirkende System des »Abhebens« ganz unbemerkt zu Fall bringen könnten.
| JÖRG FUCHS
Titelangaben
Julia November: Kaufen Sie noch ein Los, bevor wir abstürzen: Aus meinem Alltag als Pilotin bei einer Billig-Airline
München: Riva 2014
200 Seiten, 9,99 Euro
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Leseprobe
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