Sachbuch | Sy Montgomery: Rendezvous mit einem Oktopus
Auf diversen Wegen gehen wir auf die Natur zu und lernen zu respektieren, dass Tiere ein Leben nach eigenen Regeln führen. Zwar wird von einer selbst ernannten Avantgarde bereits das Anthropozän ausgerufen, doch das dürfte allzu ambitioniert sein. Genau. Was wir früher schlicht als großmäulig bezeichneten, nennen wir heute ambitioniert. Von WOLF SENFF
Das Verhältnis zu den Geschöpfen wandelt sich, der Mensch unternimmt tastende Schritte, um sich zu integrieren. Neulich noch buchte die privilegierte Elite das Intensivseminar ›Umgang mit einem Pferd‹, dann folgte flugs das Aufbauseminar, die einsame Wanderung mit einem Esel oder einem Lama – ›Erkenne dich selbst‹ lautete dereinst die Inschrift vor dem Orakel von Delphi. Das war längst vor den Industriezeitaltern.
Plötzlich ist alles anders
Warum auch nicht. Wenn’s hilft – jedenfalls dürfte unverkennbar sein, dass der Mensch seine Beziehung zu der umgebenden Natur neu justiert. Wir lesen ausführliche Abhandlungen über das geheime Leben der Bäume. Nichts kann uns abschrecken. In Scharen versammeln wir uns bei Sonnenuntergang im abgelegenen Tister Bauernmoor und sehen gerührt und mit Herzklopfen den Kranichen zu, die dort auf ihrem kräftezehrenden Flug von Skandinavien nach Südfrankreich und Spanien eine Rast einlegen.
Meine Güte. Noch in den Siebzigern wäre so etwas der Langweiler des Jahrzehnts gewesen – wie die Ornithologie überhaupt, die, öffentlich kaum wahrgenommen, heute eine überaus zahlreiche, engagierte Anhängerschaft hat und auch wissenschaftlich prominent vertreten ist.
Blind date
Die Medien, wir wissen es längst, benötigen Aufreger, doch die Zeiten sind vorbei, in denen der Krake, auch Tintenfisch, auch Oktopus, als Ungeheuer inszeniert wurde und in der Schublade ›Schrecken der Tiefsee‹ unterkam. Die Publikation von Sy Montgomery klärt uns auf und lässt uns staunen.
Auch staunen darüber, dass das Aquarium in Seattle ein jährliches Oktopus-Blind-Date veranstaltet, auf dem bis zu sechstausend Zuschauer kopulierenden Kraken zusehen. »Wenn Sie nicht gut sehen können – unsere Kameras übertragen die Bilder auf den großen Bildschirm hinter dem weißen Tisch.«
Schauder! Gänsehaut!
Oktopoden sind individuelle Lebewesen und charakterlich sehr verschieden, mindestens so verschieden wie die Menschen. Montgomery erzählt von einem Pazifischen Riesenkraken, der in einem Aquarium gemeinsam mit zwei anderthalb Meter langen Dornhaien untergebracht war. Er beseitigte sie mit gezielten präventiven Attacken. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.
Also doch Ungeheuer? Nein, auf keinen Fall, wenn es nach Montgomery geht. Der Krake ist überaus eigen, Montgomery erfuhr von ihm stets behutsame, rücksichtsvolle Zuwendung. Das ist, Sie haben’s bemerkt, politisch korrekt formuliert. Denn real saugten sich die Saugnäpfe seiner Tentakel – Schauder! Gänsehaut! – am Arm Montgomerys fest.
Nicht auf dem Mars und sonst wo
Das hört sich aber gar nicht gut an. Doch Montgomery erlebte das stets als ein Zeichen liebevoller Zuwendung eines hochsensiblen Lebewesens, und sie genoss eine wohltuende, einzigartige haptische Erfahrung.
Und Tintenfische seien nicht allein untereinander verschieden, sondern kognitiv so gänzlich anders organisiert als der Mensch, dass wir es uns »vielleicht gar nicht vorstellen können«. Sie zeigt, dass der Mensch – von seinem Technikrausch besoffen – andere Welten weder auf dem Mars suchen muss noch sonst wo weit weg, sondern dass er die Welten locker findet, sobald er nur die Augen öffnet für die ihn umgebende Natur.
Mal ohne die Krücken
Man mag zurecht an ›Rendezvous mit einem Oktopus‹ kritteln, dass viel amerikanisches Lebensgefühl um sich greift, etwa in der breiten Selbstdarstellung des Ego der Autorin, und dass die Einordnung der Krakendame als eine Freundin über die natürlichen Grenzen hinwegsieht – es handelt sich eher um eine intensive seelische Verwandtschaft –, und nicht jedem Leser wird der Plauderton der Sprache gefallen.
Doch die Autorin betritt Neuland, und es lässt sich nicht abstreiten, dass sie dem Leser ein faszinierendes Thema eröffnet – vermutlich verweist eine derartige Kritik lediglich auf all die Schwierigkeiten, die dem Menschen bevorstehen, sobald er den Versuch unternimmt, sich der Natur unvoreingenommen und ohne technische Krücken anzunähern.
Nach Kraken tauchen
Ergänzt werden muss auch, dass es sich nicht etwa um freie Natur handelt, sondern dass diese ›Annäherung‹ im Zoo bzw. den Aquarien von Boston und Seattle stattfindet. Anders wäre das real ja kaum vorstellbar.
Die mit der Tierhaltung verbundenen Einschränkungen werden von Montgomery zwar nicht thematisiert, doch sie berichtet uns von ihrem Tauchlehrgang und vergleichbaren Erfahrungen auf einem Tauchgang vor Moorea, einer kleinen Insel vor Tahiti.
Titelangaben
Sy Montgomery: Rendezvous mit einem Oktopus
Aus dem Amerikanischen von Heide Sommer
Hamburg: mareverlag 2017
336 Seiten, 28 Euro
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