Roman | Deborah Levy: Heiße Milch
Um Fragen der Herkunft und Identität, um Verwandtschaft und Fürsorge kreist Deborah Levys neuer Roman ›Heiße Milch‹. Er ist gleichermaßen Psychogramm, Familienaufstellung und moderne griechische Tragödie – auch wenn Köpfe nur symbolisch rollen und Medusenbisse langsam verblassen. Von INGEBORG JAISER
Sofia Papastergiadis hat mit ihrer Mutter Rose einen Bungalow am Strand von Alméria gemietet. Doch nicht Urlaub führt die beiden Engländerinnen nach Andalusien. Es ist die mysteriöse Krankheit von Rose, die mit lahmen Beinen auf einen Rollstuhl angewiesen ist – jedoch aus unerklärlichen Gründen zeitweilig auch gehen und Autofahren kann.
Nach einer wahren medizinischen Odyssee soll die Privatklinik von Dr. Gómez endlich Klarheit bringen. Nur ein saftiger Kredit kann den beiden Frauen diese verzweifelte Reise ermöglichen.
Medusenbisse und Tentakel
Die 25jährige Sofia hat ihr ganzes Leben unter die Krankheit der Mutter gestellt. Ihr Beruf? Aushilfs-Barista in einem Coffee Shop. Ihre Ausbildung? Ein sinnloses Anthropologiestudium mit abgebrochener Dissertation. Ihr Zuhause? Ein Abstellraum über dem Café. Führerschein? Viermal durchgefallen. Freunde? Fehlanzeige. Selbst der griechische Vater Christos hat die Familie verlassen und lebt nun mit seiner 40 Jahre jüngeren neuen Frau und einem kleinen Baby in Athen. Um Sofia kümmert er sich weder emotional noch finanziell.
Liegt es an der glühenden Sonne Südspaniens, die sich wie ein Brennglas über die Geschehnisse legt, dass sich gerade hier Unerhörtes entwickelt? Entpuppt sich der eloquente Dr. Gómez als Scharlatan, indem er keine Diagnose stellt, jedoch die Medikation von Rose rigoros zusammenstreicht und ihre Lähmung schlicht in Frage stellt? Sofia indes – »Es stimmt, dass ich oft die Figur geändert habe, von dünn zu verschiedenen anderen Größen« – scheint erstmals in ihrem Leben Form anzunehmen und ihren Körper zu spüren. Schuld daran ist Juan, der Ersthelfer vom Strand, der Sofias juckende Quallenbisse versorgt und auch ein bisschen mehr. Noch dringlicher entwickelt sich die Beziehung zur lasziven, herausfordernden Deutschen Ingrid Bauer, die ihren Aufenthalt in Alméria mit Näharbeiten und Stickereien finanziert. Sie verführt die eher passive Sofia und bestickt ihr ein gelbes Seidentop mit dem Schriftzug »geliebt«.
Griechische Tragödie
Kühn geworden, fliegt Sofia nach Athen, um ihren Vater an seine finanziellen Pflichten zu erinnern. Doch der hat nur Augen für das kleine Baby und seine jugendliche Kindsbraut mit Zahnspange und albernen Schäfchenpantoffeln. Für Sofia fällt nichts ab. Schlimmer noch: sie erkennt erst jetzt, dass der Schriftzug auf dem Seidentop nicht »geliebt« sondern »gekoepft« lautet. Spätestens hier scheint mit aller Gewalt die Ahnung einer griechischen Tragödie klassischen Ausmaßes durch.
Deborah Levy ist mit ihrem neuen Roman, der für den renommierten Man-Booker-Price nominiert wurde, das meisterhafte Psychogramm einer krankhaft symbiotischen Mutter-Tochter-Beziehung gelungen. Worte, Begriffe, Formulierungen rammen sich messerscharf in unsere Wahrnehmung. »Meine Liebe zu meiner Mutter ist wie eine Axt. Sie schlägt sehr tief«, bekennt Sofia. So scheinen die Ratschläge des Dr. Gómez auch eher der mutlosen Tochter als der hypochondrischen Mutter zu gelten. Wie ein Katalysator treiben die wirren Ereignisse Sofias Selbstbefreiung voran. Am Ende stellt sie den Rollstuhl samt Mutter einfach mitten auf einer befahrenen Landstraße ab. Ein Mordversuch? Hilfe zur Selbsthilfe? Die Anrufung des Schicksals?
Man ahnt, dass Sofia ihre abgebrochene Dissertation zu Ende bringen wird, eine Dissertation über Erinnerung und Gedächtnis. Doch können jemals die alten Kreisläufe durchbrochen werden? »Die Flut kam und mit ihr sämtliche Medusen, die einfach mitgeschwemmt wurden. Die Tentakel der schwebenden Quallen, wie etwas Abgelöstes, eine Plazenta, ein Fallschirm, ein von seinem Heimatland abgetrennter Flüchtling.«
Titelangaben
Deborah Levy: Heiße Milch
Aus dem Englischen von Barbara Schaden
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2018
287 Seiten. 20.- Euro
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| Ingeborg Jaiser über Deborah Levy in TITEL kulturmagazin