Jugendbuch | Dianne Touchell: Foster vergessen
Was und wie viel Kinder von dem verstehen, was um sie herum vorgeht, wird von Erwachsenen gern unterschätzt. Probleme nicht anzusprechen, vergrößert das Leid von Kindern nur. In ihrem neuesten Buch erzählt Dianne Touchell davon, wie es sich für ein Kind anfühlt, wenn es in eine Schreckenskammer des Leidens und Schweigens versetzt wird. Von MAGALI HEIẞLER
Von australischen Jugendbuch-Autorinnen sind wir seit einiger Zeit Großes gewöhnt, erzählerisch, sprachlich und von dem, was ihre Geschichten den Leserinnen und Lesern mitgeben. Worauf man noch dazu gefasst sein muss, ist, dass die Lektüre ihrer Bücher wehtut. Dianne Touchell bildet keine Ausnahme. Ihr neues Buch ist ihr drittes für Jugendliche und wieder liegt vor den Leserinnen ein Pfad durch Dornenhecken.
Foster ist sieben Jahre alt. Er liebt seine Eltern, besonders seinen Vater. Die beiden finden vor allem in der bunten, abenteuerlichen Welt der Geschichten, die Fosters Vater aus dem Stand spinnen kann, zusammen. Prinzessinnen und Drachen, tapfere Soldaten, die für die Freiheit kämpfen, magische Spiegel, die die Zukunft verkünden, sind gleichermaßen Phantasieprodukte wie Erklärung für die oft rätselhaften Vorgänge in der Welt der Erwachsenen.
Als sein Vater immer vergesslicher wird und bald auch seltsame Dinge sagt und tut, ist Foster verwirrt. Er weiß nicht mehr, worauf er sich verlassen kann. Erklärt wird ihm nichts, er erfährt nur, dass sein Vater krank ist. Der Kleine klammert sich daran, dass man Krankheiten heilen kann. Aber der Vater wird nicht gesund, die Mutter zieht sich in sich zurück. Foster nimmt den Kampf auf, um die Freiheit, um die Zukunft.
Ohne Gnade
Die Diagnose Alzheimer erwartet man bei alten Menschen, hier ist es ein jüngerer Mann, den dieses Schicksal trifft. Touchell widmet sich dem Verfall und den Folgen für die Angehörigen. Erwartungsgemäß erspart sie einer wenig. Angetrieben wird die Handlung durch Beschreibungen vom Fortschreiten der Krankheit, den immer irrationaler werdenden Verhaltensweisen des Vaters. Die Mutter und schließlich Foster sind über weite Strecken nur Reagierende. Das ist schmerzlich realistisch. Fosters Mutter verdrängt lange, dass sie handeln muss. Sie diskutiert, erklärt, fordert, hängt an der Vorstellung von ihrem Mann als urteilsfähigem Menschen, als er es längst nicht mehr ist. Dass sie Foster ausschließt, ergibt sich logisch daraus, denn zwischen Vater und Mutter hat er die Rolle des Kinds, das vor allem Unangenehmen beschützt werden muss. Dabei übersieht sie, dass sie zuerst einmal sich beschützt, wenn sie die Realität wegdrängt. Aus etwas, das Selbstschutz ist, wird rasch Egoismus. Die Mutter ändert ihre Position zu langsam und vergrößert damit den Druck, der auf dem Kleinen lastet.
Touchell ist sehr nah bei ihren drei Figuren, auch wenn die Perspektive ausschließlich die Fosters ist. Der Junge ist weder altklug, noch ist ihm als kindlichem Erzähler eine besondere Weisheit oder Einsichtsfähigkeit zuteilgeworden. Touchell benutzt das geringe Wissen eines Siebenjährigen, um zu verhindern, dass man beim Lesen jener Selbstherrlichkeit verfällt, die sich beim Blick von außen auf die Geschehnisse so leicht einstellt. Das Lesepublikum wird damit kräftig zum Mitdenken aufgefordert. Es einerseits unwissend wie Foster, zugleich etwas erfahrener im Umgang mit der Welt und schon einsichtiger.
Womit die Autorin Foster ausgestattet hat, ist die Fähigkeit, zwischen den Phantasiegeschichten und der realen Welt unterscheiden zu können, hin und wieder schärfer als die Erwachsenen. Foster will die Wahrheit wissen, ungeschminkt, klar, verständlich. Dass die Erwachsenen ihm genau das nicht geben können, gehört zu den eigentlich schmerzlichen Erkenntnissen aus der Lektüre und ist das eigentliche gnadenlose Urteil, das Touchell hier fällt.
Gedächtnis und Vergessen
Ein zweites wesentliches Thema, das angesprochen wird, ist die Bedeutung von Erinnerung für Menschen. Was bleibt, wenn man alles vergisst, selbst das, was man geliebt hat? Der Hund der Familie ist nur der Erste, den die Krankheit unerbittlich aus dem Gedächtnis von Fosters Vater löscht. Es ist ein unaufhaltsamer Auslöschungsprozess, der hier vorgeführt wird.
Die Behutsamkeit, mit der Touchell vorgeht, macht ihn vorstellbar, aber sie nimmt den Schmerz nicht, den der Vorgang beinhaltet. Touchell vermittelt das ohne einen Fehltritt, manchmal hintergründig, manchmal direkt, einmal sanft, ein anderes Mal brutal. Nichts mildert Leid und Entsetzen, außer die Fähigkeit von Menschen zu lernen, all das zu ertragen.
Foster hilft die Erinnerung an die wunderbaren Geschichten. Die sind im übrigen so berückend, dass man, auch wenn sie eher kurz gestreift werden, beim Lesen selber verzaubert wird. Das Bild, mit dessen Hilfe Touchell Fosters Kampf beschreibt, ist unverhüllt und raffiniert gleichermaßen, ein Kriegsspiel, schrecklich wahr, schrecklich traurig.
Die Covergestaltung sowohl des Schutzumschlags als auch des Einbands geht bis zum Äußersten auf das Thema ein. Was zuerst vor allem wie ein genial-verspielter Einfall aussieht, entpuppt sich spätestens nach der Lektüre als beunruhigend bis zur Verstörung. Birgit Schmitz hat den ruhigen Duktus und die klare Sprache der Autorin genauestens eingefangen. Es gibt nichts Kindliches hier, dafür Einfachheit, Unverblümtes und zuweilen Hartes, das nicht weniger schroff ist, nur weil es von einem Siebenjährigen geäußert wird. Foster ist nicht niedlich-naiv, nicht charmant, er ist ein Kind, das allein gelassen wurde, wachsende Angst aushalten muss und den seinerseits eine Erinnerung, nämlich an die Liebe seines Vaters, aufrecht hält.
Die Lektüre muss man aushalten können. Dafür erhält man aber auch eine einzigartige Geschichte. Foster bleibt unvergessen.
Titelangaben
Dianne Touchell: Foster vergessen
(Forgetting Foster, 2016), übers. von Birgit Schmitz
Hamburg: Königskinder 2018.
253 Seiten, 16,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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