Jugendbuch | Bonnie-Sue Hitchcock: Der Geruch von Häusern anderer Leute
Das Leben ist ein wirbelndes Chaos, unmöglich zu durchschauen, der Untergang ist gewiss. So erleben es viele Teenager. Aber das ist eine einseitige Sicht auf die Welt. Tatsächlich gibt es Sicherheiten in diesem Wirbeln und das sind vor allem die Verbindungen der Menschen untereinander. Man muss sie nur finden wollen, dann sind sogar Wunder möglich. Bonnie-Sue Hitchcock präsentiert mit ihrem Debüt nicht nur eine ausgefallene Geschichte, sondern auch eine erstaunliche Sicht auf die Dinge. Von MAGALI HEISSLER
Sie heißen Ruth, Dora, Hank und Alyce. Sie sind zwischen fünfzehn und knapp achtzehn Jahre alt. Sie leben in Alaska und was sie erleben, ist fünfunddreißig Jahre her. Hitchcock schickt die Leserinnen in die Vergangenheit, ins Jahr 1970.
Sie lässt ihre Hauptfiguren erzählen und es gelingt ihr scheinbar mühelos, vier unterschiedliche Stimmen laut werden zu lassen. Die drei Mädchen kennen einander nur flüchtig, Hank kennt keine. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten. Alle haben dysfunktionale Familien. Eltern sind geschieden, Elternteile sind gestorben, verschwunden, unbekannt. Die Jugendlichen wurden ausgesetzt, adoptiert, laufen davon, haben ihre Erfahrungen mit Gewalt, in einem Fall auch sexuellem Missbrauch. Hitchcock erzählt, wie die vier damit umgehen.
Ihre Stimmen sind Einzelstimmen, aber sie erklingen vor dem Hintergrund anderer Stimmen. Geschwister, Nachbarinnen und Nachbarn, Freundinnen, Verbündeter, die sich oft unerwartet einmischen, sind zu hören. Ein Teil des Geschehens speist sich überdies aus dem, was unausgesprochen bleibt. Aus dem Verborgenen, aus Geheimnissen, offenen, den halbbekannten und den tatsächlichen. Hitchcock spielt mit allen Varianten zum Vergnügen, vor allem aber zum Erstaunen der Leserin.
Sinneseindrücke
Hitchcocks Heldinnen und Helden erfassen die Welt vornehmlich über Sinneseindrücke. Der Wichtigste dabei ist der titelgebende Geruch. Immer wieder wird er beschrieben, mit unerwarteten Wendungen, die gleich zu unerwarteten Einsichten führen. Der Geruch von frischem Tierblut und von Wildblumen, von gebrauchten Kleidern im Laden der örtlichen Wohlfahrt, von Milch- und Honigcreme, von Fischen, dem Meer, von Minze und Tannen, von Zedernholz und Putzmittel in den Wohnungen, all das prägt die Erinnerung der Figuren.
Ihre Erinnerungen sind wichtig, aus den positiven wie negativen ziehen sie Schlüsse und schöpfen Kraft, um ihr Leben weiterzuleben, so gut und schön wie unter den gegebenen Bedingungen nur möglich, denn sie haben genau darauf ein Recht. Diese Jugendlichen definieren sich selbst, ihre bereits gelebten Jahre, so wenige es auch sein mögen, haben einen Wert für sie. Ihre Jugend lässt sie zuerst falsche Schlüsse ziehen. Ruth wird mit sechzehn schwanger, Dora zieht sich in sich zurück, statt aktiv gegen ihren gewalttätigen Vater vorzugehen, obwohl ihr durchgängig Hilfe angeboten wird. Hank läuft davon und Alyce weicht einer Konfrontation aus, weil es einfacher ist, den Status quo zu erhalten, als sich durchzusetzen.
Die Gerüche, Geräusche und Körpergefühl kennzeichnen auch ein Leben in einer Gesellschaft, die aus verschiedenen Volksgruppen besteht, und deren Alltag sowohl vom Stadtleben als auch von Fischen und Jagen zum Lebensunterhalt geprägt ist. Es sind kleine Hinweise, Skizzen eines eher ärmlichen Alltags zwischen Mitte der 1950er bis eben 1970, die den Hintergrund der Geschichte wahr erscheinen lassen. Lebensweisen und Auffassungen vom Leben, von Glaube, Moral, Gemeinschaft sind ganz unterschiedlich, ein zusätzliches Wirrwarr, das die Jugendlichen aufdröseln müssen. Hitchcocks Botschaft ist klar, nur gemeinsam geht es vorwärts. Geben ist besser als nehmen, vergeben auch. So, wie sie sie beschreibt, verarbeitet und präsentiert, stützt sie sich auf echte Erfahrung. Die Welt, die sie entwirft, ist kein Paradies, sie hat aber tatsächlich auch schöne Momente.
Die hauchfeinen Spinnweben, die die Menschen verbinden
Was diese Geschichte, die aus vielen Einzelgeschichten besteht, überdies anziehend macht, ist das Gewebe, das die Autorin zwischen ihren Figuren spinnt. Sie macht das ganz offen. Alles hängt zusammen, ist ihre Überzeugung und ihr Arbeitsgrund. Auch wenn sie hin und wieder die Grenzen der Glaubwürdigkeit stark ankratzt, nimmt man es ihr nicht übel. Zu gekonnt, zu realistisch und genau mit dem rechten Maß an Gefühl weiß sie zu erzählen. Sie bringt Märchenhaftes und Fantastisches ein, wobei man sich fragen muss, ob der Eindruck nicht auch deswegen entsteht, weil Realismus beim Erzählen längst schon mit Negativem konnotiert ist, so, als wäre nur wahr, was schlecht ist und schlimm ausgeht.
Die Figuren in diesem Buch, gleich, ob Haupt– oder Nebenfiguren, glauben an Veränderung durch Verständnis. Durch Schönes. Dabei gibt es Konflikte und Hässliches genug. Aber man kann darüber nachdenken. Vor allem, wenn man sich einmal die Mühe gemacht hat, hinzuhören und nicht gleich zu urteilen. Auch Hören ist ein wichtiger Sinn, das sollte man nicht vergessen.
Den Jugendlichen widerfährt unvermutet viel Gutes. Hilfsbereitschaft, Unterstützung und erstaunlich viel Freiraum, sich zu entfalten. Das tun sie, mit all der Kraft, die man in jungen Jahren nur aufbringt.
Am Ende weiß man, wie alles zusammenhängt, obwohl die Geschichten längst nicht alle erzählt sind. Man weiß jedoch genug, um die hauchfeinen Spinnweben zwischen den auftretenden Figuren zu sehen, an die Hanks kleiner Bruder so fest glaubt. Das mag Märchen sein, es ist auf jeden Fall Poesie und so wird dieses eine Jahr, eingeteilt in seine vier Jahreszeiten, auch beschrieben. Bilderreich, aber mit einem wachen Sinn für die Gefahren ausgefallener Vergleiche, sparsam, aber nicht spärlich, aus vollem Herzen, aber nie aus übervollem. Hier herrscht Sinn für das richtige Maß. Die deutsche Übersetzung folgt dem und schafft einen Text, der so schön ist wie die Geschichte, all ihre Schrecken inklusive. Cover und Gestaltung könnten passender nicht sein.
Perfekte Bücher gibt es nicht, aber dieser Roman kommt dem Ideal recht nah.
Titelangaben
Bonnie-Sue Hitchcock: Der Geruch von Häusern anderer Leute
(The Smell of Other People’s Houses, 2016) Übersetzt von Sonja Finck
Hamburg: Königskinder Verlag 2016
318 Seiten. 17,99 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren
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