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Jugendbuch | Elisabeth Etz: Nach vorn

Wenn man nach einer langen, schweren Krankheit zu hören bekommt, dass man gesund ist, kann das Leben endlich weitergehen. Großartig! Falsch. Wenn man einmal aus der Normalität geworfen wurde, trägt man Narben davon und nicht nur körperliche. Das muss man erst verdauen. Nicht großartig. Von MAGALI HEIẞLER

Elisabeth Etz - Nach VornMit sechzehn erkrankt Helene, Lena, an einem seltenen Nierentumor. Die Therapien schlagen nicht an, fast anderthalb Jahre lebt sie auf der Kippe, meist in der Klinik. Dann wendet sich das Blatt, sie gilt als geheilt. Endlich wieder zuhause leben, endlich wieder zur Schule gehen, Freundinnen und Freunde finden. Alles tun, was andere Siebzehn-, Achtzehnjährige tun, Partys, lernen fürs Abitur, abhängen, shoppen, trinken. Sex. Schließlich liegt das Leben vor ihr, eine Zukunft.

Alles lässt sich bestens an. In der Schule findet sie rasch Anschluss, niemand stellt blöde Fragen und dann macht auch noch der viel begehrte Marc deutlich, dass er mit ihr zusammen sein will. Ihre Eltern erlauben ihr vor lauter Glück einfach alles. Die böse Vergangenheit kann man vergessen und begraben.
Dass sind aber nur Äußerlichkeiten, das weiß Lena genau.

Deswegen ist sie nicht mehr Lena, als sie aus der Klinik entlassen wird, sondern Hel, wie die Hölle, die sie hinter sich hat. Diese Hölle lässt sich nicht von einem auf den anderen Tag vergessen und ein Zurück zum Vorher gibt es auch nicht. Lena wird es nie mehr geben, Hel sein, weist auf eine Zukunft voller neuer Schrecken. Wo ist der Weg?

Tapferkeitsmedaillen?

Etz läßt ihre knapp achtzehnjährige Hauptfigur sprechen und das macht sie so überzeugend, dass man nach wenigen Sätzen fast vergessen hat, dass man ein Buch liest und nicht neben Hel sitzt. Oder vor ihr, nein, besser nicht vor ihr. Was sie zu sagen hat, ist zu sehr dazu angetan, dass man ihr nicht dauernd in die Augen sehen möchte, während sie erzählt.
Hel ist hinreißend, sie ist charmant und sie ist überglücklich. Sie hat eine lange, scheußliche Krebstherapie überstanden. Zugleich ist sie voller Wut. Auf das Schicksal, auf ihren Körper, der sie zeitweise im Stich gelassen hat. Auf die Menschen in ihrer Umgebung, die von Tapferkeit sprechen, von kämpfen und von Nahrungsmitteln, die man nur meiden muss, und schon erkrankt man nicht an Krebs.

Hels Bericht von ihrer Zeit nach der Entlassung aus dem Spital ist keine Schimpftirade, im Gegenteil. Sie stürzt sich voll Freude auf das Leben. So ist sie die Erste, die zunächst spürt, dann begreift, dass es nicht möglich ist, mühelos anzuknüpfen an das Vorher. Ihr Blick hat sich verändert, von Grund auf. Sie will ein ganz normales Teenagerleben, so, wie man es landläufig erwartet. Etz zeigt deutlich, wie traulich diese Erwartungen sein können, ein warmer Mantel gegen die Unbill des Lebens. Ihre Hel würde viel darum geben, könnte sie die Erwartungen, die ja auch ihre sind, einfach ausleben. Sie scheitert, bei fast jedem Schritt bricht sie ein.

Der Verlauf der Krankheit und die Behandlung werden nur angerissen, aber beides ist stets präsent. Hel würde das genauso gern vergessen wie die Leserin – Etz weiß unangenehm gut, wie sie dieses Gefühl unterschwellig weckt und füttert -, es erweist sich als unmöglich. Und so tauchen schlaglichtartig Erinnerungen auf, an Schmerzen, Todesangst, Zorn, Tränen, Ekel. An die entsetzliche Schwäche, die körperliche aber auch die geistige Erschöpfung bis hin zu Folgen wie Gedächtnisverlust.

Etz geht, mit Hels Stimme, sehr offen mit landläufigen Einschätzungen über Krebspatientinnen und -patienten um. Mit dem Gerede von der »Tapferkeit« oder dem Umstand, dass es viel zu oft die Betroffenen sind, die Nichtbetroffenen den Trost geben müssen, den sie selber brauchen. Sie führt damit in eine Diskussion ein, die dringend laut geführt werden müsste.

Hochdifferenzierte Beziehungen

Schon das Thema der Unmöglichkeit, an ein Leben vor einem tiefen Einschnitt anzuknüpfen, macht aus diesem Buch etwas Besonderes. Das »Nach Vorn« des Titels trägt ein unsichtbares Fragezeichen, je nach Sichtweise der Leserin hat es auch einen Hauch Ironie. Einige Kapitel lang unterliegt ihm sogar Bitterkeit. Die Vergangenheit kann eine böse Fessel sein. Hel braucht ihre Zeit, bis sie verstanden hat, was diese andere Lebenserfahrung aus ihr gemacht hat.

Die geschilderten Beziehungen, sei es zu den Eltern, sei es zu Marc oder ihren neuen Freundinnen, sind beeindruckend differenziert gezeichnet. Das ist ein zweifaches Wunder, denn der Platz im Buch ist beschränkt und Hel macht keine langen Worte. Sie macht dafür um so präzisere. Wenn ihr etwas wehtut, dann im nächsten Moment auch der Leserin, darauf kann man sich verlassen. Zugleich rührt es eine, zu lesen, wie sehr sich Hel nach Normalität sehnt, etwa, wenn sie sich heimlich wünscht, ihre Eltern würden ihr endlich einmal etwas verbieten.

Überraschend anders entwickelt sich auch die Beziehung zu Marc. Eindeutig, anfänglich, muss man sich zuletzt fragen, wer wen ausgenützt hat. Oder auch nicht. Das gilt auch für die Freundinnen, die harmloseren wie die keineswegs harmlose. Gibt es überhaupt reine Motive im Umgang mit anderen? Etz wirft die unerwartetsten Fragen auf, flink aus dem Handgelenk, genau dann, wenn niemand es erwartet.

Der Schluss ist eine etwas artig geratene Verneigung in Richtung der österreichischen Kinderkrebshilfe, aber alles andere als verkehrt. Ohne die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gibt es keine Zukunft. Abgedroschen? Das haben Fakten an sich. Diese Geschichte aber macht es noch um einiges runder und tiefer.

Helene-Lena-Hel bekommt übrigens einen neuen Namen, grad mal so und ehe man es sich versieht. So kann’s gehen. Das Leben besteht eben nicht aus Erwartungen, sondern aus Überraschungen.

| MAGALI HEIẞLER

Titelangaben
Elisabeth Etz: Nach vorn
Wien/Innsbruck: Tyrolia Verlag 2018
208 Seiten, 16,95 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren
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