(Schul)alltag

Marie-Aude Murail, Ein Ort wie dieser

 
Lehrerin ist Céciles Traumberuf, seit sie denken kann. Jetzt hat sie es tatsächlich geschafft und steht 18 Erstklässlern gegenüber. Endlich am Ziel ihrer Träume? Für die schüchterne junge Frau beginnt ein aufreibendes und aufregendes Schuljahr mit einer Horde ungebändigter Kinder mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen, mit argwöhnischen Kolleginnen und misstrauischen Eltern. Cécile stellt sich den Herausforderungen. Von ANDREA WANNER
 
EinOrtWieDieserWo anfangen? Wo System in das Chaos bringen, das in der Klasse herrscht. Cécile entscheidet sich für einen sehr eigenen und eigenwilligen Weg, der auf das Lesebuch verzichtet und stattdessen einen Hasen namens Kicko-Kack ins Leben ruft, der stellvertretend für die Kinder all deren Sorgen und Nöte durchlebt. Probleme gibt es genug, die von Lernschwierigkeiten über ungebremste Aggression bis zu bitterer Armut der Flüchtlingsfamilie Baoulé reichen mit ihren vielen Kindern, die teilweise traumatisiert sind und auf eine besondere Weise ebenso liebenswert wie chaotisch.
 
Cécile wählt keinen leichten Weg. Unermüdlich kümmert sie sich individuell um ihre Schützlinge und deren Probleme. Wo es ihr an Autorität mangelt, setzt sie Herzlichkeit und Wärme ein und schafft eine besondere Art der Bindung und Förderung. Damit macht sie sich nicht nur Freunde.
 
Die französische Autorin Marie-Aude Murail schafft unverwechselbare Charaktere, die authentisch wirken. Immer wieder werden andere Figuren des Romans in den Vordergrund gerückt: die übergewichtige kleine Audrey mit ihrem Sprachfehler, die ihre gesamt Freizeit vor dem Fernsehapparat verbringt; der charismatische Schulleiter Monsieur Montriol, der sich Céciles Art verzaubern lässt; der eigenwilligen Eloi, der sich gegen das Gesellschaftssystem und seine Eltern auf seine Art zur Wehr setzt, und dessen Zauber sich Cécile nicht entziehen kann; die vier Mitglieder der Familie Baoulé, die auf Vorurteile und Misstrauen stoßen … Jeden skizziert Murail mit leichter Hand, treffenden Worten und macht ihn zu einer unverwechselbaren, eigenständigen Person.
 
Sie flicht aus unterschiedlichen Handlungssträngen um unterschiedliche Personen eine spannende Geschichte, in deren Mittelpunkt mehr und mehr die Flüchtlingsproblematik rückt. Am Ende springen gleich mehrere Personen über ihren Schatten und Lösungen scheinen möglich. Dass das Jugendbuch mit so viel kritischem Potenzial nicht ins Kitschige abdriftet, versteht sich bei Marie-Aude Murail von selbst. Die französische Schriftstellerin, die 2008 für ihr Buch ›Simpel‹ mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis der Jugendjury ausgezeichnet wurde, findet die richtigen Worte, um Probleme zu thematisieren und den Finger auf Wunden zu legen.

Überzeugend suchen sich ihre Helden den richtigen Weg im Leben, gehen kreativ mit Schwierigkeiten um und erleben – wie im echten Leben – Rückschläge und Enttäuschungen. Trotzdem ist ihre Botschaft klar: Es braucht Solidarität, um die großen Themen unserer Zeit und unserer Gesellschaft anzugehen. Ihre Heldin Cécile entwickelt jene Fähigkeiten, die notwendig sind, um andere wach zu rütteln. Dass sie dabei an ihren Aufgaben wächst und sich selbst weiterentwickelt, versteht sich von selbst – ohne dass aus der schüchternen jungen Frau eine Superheldin werden muss. Was sie kann, kann jede. Das zu erkennen und den Mut zu haben, eigene Schritte zu tun, wäre schon eine Menge.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Marie-Aude Murail, Ein Ort wie dieser
(Vive la République!, 2005)
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Frankfurt: S. Fischer/KJB 2014.
416 Seiten. 16,99 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren

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