Kinderbuch | Paul Biegel: Die Gärten von Dorr
Seit Hollywoods Traumfabrik europäische Märchen, in rosa Zuckerguss ertränkt, dem Publikum als neu serviert, ist fast in Vergessenheit geraten, dass hinter dem Schönen und Wunderbaren des Märchens Abgründe voll Grausamkeit und Grauen lauern. Abgründe, die man vielleicht überwinden kann, die aber weiterexistieren. Deren Schrecken bleiben oder sogar wachsen, die immer wieder überwunden werden müssen. Von MAGALI HEISSLER
Paul Biegel gehört zu den modernen Märchenerzählern, die die Erinnerung an die dunklen Seiten wachhalten. Zu Liebe gehört unverbrüchlich Leid, davon erzählt er in diesem inzwischen fünfundvierzig Jahre alten Kinderbuch ›Die Gärten von Dorr‹, das sich beim Lesen als nicht nur staubfrei, sondern geradezu aktuell erweist.
Eine Prinzessin, ein Gärtnerjunge, eine Hexe mit bösen Plänen sind die Grundzutaten dieser Geschichte. Das reicht für einen Kosmos, wie er zunächst düsterer kaum sein kann. Die Prinzessin hat ihren Freund, den Gärtnerjungen verloren. Er wurde von der Hexe in eine seltene Pflanze verwandelt. Diese keimt jedes Jahr aufs Neue, wächst, blüht und verdorrt, nur um den Kreislauf wieder zu beginnen. Ihr Leben – und damit das des Gärtnerjungen – steckt in ihrem Samenkorn. Die Prinzessin darf es nie verlieren.
Was schon verloren ist, sind die Gärten der geheimnisvollen Stadt Dorr. Dort aber muss das Mädchen das Samenkorn einsäen, anders kann der böse Zauber nicht gelöst werden. Sie macht sich auf den Weg, der Weg ist voller Schmerzen.
Die Prinzessin hat aber auch einen Unterstützer, den närrischen Spielmann Jarrik. Doch auch Jarrik hat ein Geheimnis.
Düsterwelt
Biegels Geschichte erzählt vom Verlorengehen und Gefundenwerden. Wenn er einsetzt, hat die Geschichte, die er erzählt, längst begonnen. Die Leserin findet sich mitten in der Düsterwelt, durch die die Prinzessin irrt auf ihrer Suche nach den Gärten von Dorr. Was geschieht, ist geheimnisvoll, verhangen und lebensbedrohend. Dass das Wasser, über das die Prinzessin fährt, bitter ist, weist auf die Tränen, die schon geweint wurde.
Die Forderungen, die an die junge Heldin gestellt werden, sind unerbittlich. Sie erfüllt sie mit einer inneren Tapferkeit, die wenig von Demut hat. Es ist eher ein ebenso unerbittlicher Wille, ihr Ziel zu erreichen. Tapferkeit in Form von Stolz und Trotz, auch das gehört in diese düstere Welt.
Auch die Namen, die die Hauptfiguren tragen, sind dunkel verrätselt. Zunächst hat das Mädchen keinen, der, den sie am Stadttor von Dorr erhält, ist nicht der ihre. Sie hat einen eigenen, doch der ist ebenso geheimnisvoll wie der des Gärtnerjungen. ›Verlier-mich-nicht‹ und ›Komm-zurück‹ heißen die beiden, Märchenpoesie wie in alten Zeiten klingt an.
Puzzelstücke
Die Handlung ist geradlinig, der Eindruck wird aber geschickt verwischt, indem Biegel zum einen Jarrik, zum anderen die sehr seltsamen Bewohner Dorrs ihrerseits Geschichten erzählen lässt, die sich im Verlauf wie Puzzlestücke zusammenfügen. Die Charakterisierung der meisten Figuren ist kühn. Im besten Fall sind sie seltsam, im schlimmsten lebensgefährlich.
Biegel zeigt hier konsequent eine kindliche Sicht auf die Erwachsenenwelt. Die Erwachsenen verhalten sich nach Regeln, die ein Kind zunächst einfach hinnehmen muss, auch wenn es darunter leidet. Das Verhalten löst Furcht aus, Abneigung, Abwehr, Ekel. Selbst die freundlichsten Begegnungen verunsichern. Erwachsene erklären mit Worten, die nicht recht verständlich sind. Sie wissen, dass sie etwas falsch machen, aber sie tun es trotzdem. Auch das ist eine Erfahrung, die Kinder machen.
Jarrik dagegen übernimmt die Rolle des Berichterstatters, von ihm hören wir die Geschichte der Prinzessin, des Gärtnerjungen und der Hexe. Stück für Stück klärt sich alles auf. Die Lösung ist ein echtes Wunder, aber kein einfaches. Zu den Verhaltensweisen, die äußerst negativ gesehen werden, gehört schließlich die schlimmste, das Kriegführen. Es gibt Schlaglichter auf Kampf, Tod und verwüstete Schlachtfelder, die beklemmend sind trotz ihrer Kürze.
Beklemmend sind auch die Bilder, die Charlotte Dematons für Biegels Geschichte erdacht hat. Düsternis wuchert oft über zwei Seiten, Verschwommenes wabert, Schräges wächst heraus. Dann, urplötzlich, strahlende Farbigkeit, Schmetterlinge und bunte Sterne.
Es geht gut aus, richtig gut. Auch wenn manch einer das Glück nur bei einer Totenwacht findet.
Märchen und Leben lassen sich eben schwer voneinander trennen.
Titelangaben
Paul Biegel: Die Gärten von Dorr
Stuttgart: Verlag Urachhaus 2014
241 Seiten. 16,90 Euro
Kinderbuch ab 10 Jahren