Jugendbuch | Josephine Angelini: Annies Welt
Das Leben mit acht Geschwistern mag man sich vielleicht ganz spannend vorstellen. Und vermutlich kann das auch funktionieren und funktioniert in manchen Fällen. In Annies Familie nicht. Von ANDREA WANNER
Annie ist zehn und die Jüngste. Eigentlich heißt sie Antoinette Elisabeth Bianchi. Die Eltern ihres Vaters stammen aus Italien, die ihre Mutter aus Irland.
Und beide Elternteile sind streng katholisch. So katholisch, dass das Kinderkriegen auch dazugehört. Acht Mädchen und ein Junge, die Älteste ist bereits auf dem College, die anderen wohnen zu Hause in der Show Lane. Und das ist nicht die beste Wohngegend.
Annie erzählt aus ihrem Alltag, berichtet von Streitereien der Geschwister, von der Schule, ihren Freunden, Auseinandersetzungen mit den Eltern. Sie ist ein durch und durch positives Kind, klug und verträumt, das freundlich auf andere zugeht.
Auch der Ton, mit dem sie Dinge herunterspielt, verharmlost und darüber hinweggeht, täuscht beim Lesen zunächst über das Ausmaß der Katastrophe hinweg: Es herrscht Gewalt in der Show Lane, man schaut weg, duckt sich weg, wartet, bis das Gewitter vorüber ist und macht weiter wie gewohnt.
Vernachlässigung durch die komplett überforderten Eltern ist das Normale, das Ausmaß der Verwahrlosung ist für die Geschwister erst mit fortschreitendem Alter erkennbar. Annie ist zu jung. Noch. Sie wird elf und beginnt mehr zu sehen, nach Zusammenhängen zu fragen. Das ist bedrückend, weil auch Leserinnen und Leser plötzlich anfangen zu verstehen, um was es geht.
Annie hat ihre Strategien, um Schlimmes und Hässliches auszublenden: Sie zählt. Mit Zahlen versucht sie, der Welt ein ordnendes Muster zu geben, zieht sich aus der Realität heraus. Josephine Angelini erzählt das nachvollziehbar. Jede und jeder braucht hier Taktiken, um irgendwie durchzukommen.
Dass sie nicht funktionieren können, spürt man bald. Hilfe, das wird klar, kann nur von außen kommen. Aber eine Familie, der es gelingt, die Fassade aufrechtzuerhalten – schon allein, weil sie nie Besuch empfängt – scheint keine Hilfe zu brauchen. Eine mutige kleine Heldin erkennt, was auf dem Spiel steht.
Ja, Angelini arbeitet mit Klischees. Aber sie lässt viel Raum fürs Nachdenken und verzichtet – das sei ihr hoch angerechnet – auf ein allzu rosarotes Ende. Die Probleme sind da, niemand kann sie von heute auf morgen lösen. Aber am Ende liegen sie wenigstens auf dem Tisch und man kann, wenn man guten Willens ist, anfangen daran zu arbeiten.
Titelangaben
Josephine Angelini: Annies Welt
3 x 3 Gründe glücklich zu sein.
Aus dem Amerikanischen von Sandra Knuffinke und Jessika Komina
Hamburg: Dressler 2019
240 Seiten, 17 Euro
Jugendbuch ab 11 Jahren
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