Jugendbuch | Kayla Ancrum: Wicker King
Wie weit kann Freundschaft gehen? Wie weit darf Freundschaft gehen? Und wann muss man erkennen, dass man aussteigen muss? Von ANDREA WANNER
Die Freundschaft zwischen August und Jack, zwei Siebzehnjährigen, befremdet bereits auf den ersten Blick. Sie gehören ganz unterschiedlichen sozialen Schichten an. Jack kommt aus einem äußerst wohlhabenden Haus, von den Eltern aber, die nie da sind, wird er vernachlässigt. Augusts Eltern sind geschieden, seine Mutter leidet an Depressionen. Er ist derjenige, der sich kümmert, der einkauft, Rechnungen bezahlt, größten Wert auf sein Äußeres legt, das seine Herkunft und die ständige Geldknappheit auf keinen Fall verraten soll. Und August nimmt auch Jack unter seine Fittiche, hört ihm zu, bekocht ihn, fungiert als eine Art Elternersatz.
In der Schule, die sie beide besuchen, gehen sie getrennte Wege. Nichts deutet darauf hin, dass sie eine langjährige Freundschaft verbindet. Eine Freundschaft, die aus Abhängigkeit und gemeinsamen Abenteuern besteht und die die beiden aneinanderbindet. Jacks blühende Fantasie schafft ein Reich, in dem er der Herrscher ist und August ihm dient. Für beide scheint das zu passen. Schließlich hat Jack August das Leben gerettet, als sie beide elf waren.
Dann allerdings werden Jacks Fantasien stärker und merkwürdiger, drohen die Realität zu verdrängen. August ist gleichzeitig fasziniert und besorgt. Und trifft eine Entscheidung.
Kayla Ancrum lässt August die Geschichte aus seiner Perspektive erzählen. Er tut das ungeordnet und sprunghaft in kurzen Kapiteln, die durch ihre Überschriften einen Hauch von Poesie erhalten. Ratlosigkeit wird ebenso deutlich wie Abhängigkeit. Eine gewisse homoerotische Komponente ist auch zu spüren.
Und wenn schon das opulente Äußere in dunkler Farbe mit mysteriösen goldenen Zeichen neugierig auf den Inhalt macht, zieht sich die aufwendige Gestaltung durch die gesamten 320 Seiten. Kritzeleien, Briefe, handgeschriebene Playlists, amtliche Dokumente, Fotos: der Text auf den getönten, immer dunkler werdenden Seiten wird durch zahlreiche Elemente ergänzt.
Schaut man den Buchschnitt an, verrät der schon einen Teil der Geschichte: Die Schnittverzierungen resultieren aus dem Seitengrund, der hell beginnt mit schwarzer Schrift darauf und Schwarz endet mit weißer Schrift. Von außen wirkt das wie aufziehende Gewitterwolken: Das Helle wird schrittweise dunkler. So auch die Geschichte. Waren am Anfang die Dinge noch – halbwegs – an ihrem Platz, so wird das Chaos Seite um Seite größer. August greift nicht auf die angebotene Hilfe von Mitschülern zurück, wendet sich nicht an Erwachsene – die durchweg schlecht wegkommen in diesem Jugendroman und sich vor allem durch Abwesenheit in jedweder Form auszeichnen. Wer einen packenden Fantasyroman erwartet hat, muss schnell feststellen, dass es hier um mehr geht. Ungewöhnlich ist die Geschichte allemal.
Manches bleibt unaufgelöst und in der Schwebe, für anderes wird eine plausible Erklärung geliefert. In ihrem Nachwort findet Ancrum deutliche Worte für die Situation vernachlässigter Jugendlicher und deren Gefühl, alles alleine bewältigen zu müssen. »Bittet um Hilfe, wenn ihr sie braucht.« Formuliert sie unmissverständlich. Und erklärt auch das Phänomen der Co-Abhängigkeit.
Bleibt zu hoffen, dass junge Leserinnen und Leser das Buch nicht nach dem letzten Satz der Geschichte aus der Hand legen, sondern auch noch diese aufmunternde Botschaft mitnehmen.
Titelangaben
Kayla Ancrum: Wicker King
(Wicker King, 2017). Übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn
München: dtv 2018
320 Seiten, 16,95 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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