Was für ein Mensch will ich sein?

Jugendbuch | David Safier: 28 Tage lang

Das »Dritte Reich« und das, was es für viele Menschen, die es erlebten, bedeutete, bleibt ein Thema in Jugendbüchern. David Safier schildert in ›28 Tage lang‹ die Geschichte des Aufstands im Warschauer Ghetto, mittendrin Mira, ein 17jähriges jüdisches Mädchen. Von ANDREA WANNER

28 Tage langDas Warschauer Ghetto wurde Mitte der 1940er Jahre im Stadtzentrum Warschaus von den Nationalsozialisten als größtes Sammellager dieser Art für polnische und deutsche Juden errichtet. Erst im April 1943 wehrt sich ein Teil der wenigen Verbliebenen. Der Aufstand im Warschauer Ghetto dauert 28 Tage, ein ebenso verzweifelter wie aussichtsloser Kampf gegen eine erdrückende Übermacht. Mira ist dabei.

Leben im Ghetto

Safier lässt Mira aus ihrer Sicht vom Leben und Alltag im Ghetto berichten. Die Geschichte setzt ein, als die Situation für die Juden sich bereits dramatisch verschlechtert hat, aber es noch immer Hoffnung gibt. Miras Vater hat sich bereits das Leben genommen, ihr Bruder arbeitet der für die Judenpolizei im Ghetto und Mira organisiert das Leben und die Lebensmittel für ihre gebrochene, apathische Mutter und die drei Jahre jüngere Schwester Hannah. Sie ist in Daniel verliebt, der sich im Waisenhaus von Janusz Korczak um die Kinder kümmert und begegnet bei einer ihrer gefährlichen Schmuggeltouren Amos, einem jungen Mann, der – was sie nicht weiß – im Untergrund Flugblätter druckt und Waffen organisiert für den Widerstand. Aber auch dieser letzte Rest an Sicherheit und Hoffnung hat keinen Bestand, alle sollen deportiert werden. Und Mira begreift, was das bedeutet.

Verluste

Seite um Seite werden die Leser mit einer Geschichte konfrontiert, die unfassbar ist. Aber es ist eben nicht eine Geschichte, es ist Geschichte. David Safier, den Leser als Autor von Romanen ganz anderer Art wie ›Mieses Karma‹ oder ›Muh‹ kennen, will mit diesem Buch »eine Brücke zwischen den Generationen« schlagen. Seine eigenen Großeltern sind in Buchenwald und im Ghetto von Lodz gestorben. Und so erinnert er mit Mira an Ereignisse, die in dieser grauenhaften Zeit stattgefunden haben, stellt aber gleichzeitig die Frage »Was würdest du tun, um zu überleben?«

Die Alternativen zeigt er exemplarisch an den Menschen in Miras Umfeld: Das ist ihr Vater, ein engagierter Arzt, der seinem eigenen Leben verzweifelt ein Ende setzt; Miras Mutter zerbricht am Tod ihres Mannes und nimmt keinen Kontakt mehr zu ihrer Umwelt auf; Hannah, Miras Schwester, denkt sich Geschichten aus, märchenhafte Episoden, die von Literatur wie ›Der Zauberer von Oz‹ inspiriert sind, und in denen sie mit ihrem ersten Freund an ihrer Seite gegen den mächtigen und grausamen Spiegelmeister kämpft; Miras Freundin arbeitet als Prostituierte und geht auch mit SS-Männern ins Bett; Miras Bruder wird zum Kollaborateur und Helfer der Nazis; Und schließlich wählen die beiden jungen Männer in Miras Leben, Daniel und Amos, ganz unterschiedliche Wege.

Dabei hat Safier z.B. auch historischen Persönlichkeiten, die im Warschauer Ghetto lebten, ein Denkmal gesetzt, wie beispielsweise dem Arzt und Reformpädagogen Janusz Korczak, der im August 1942 die 200 Kinder seines Waisenhauses beim Abtransport in ein Vernichtungslager begleitete, was auch für ihn selbst den Tod bedeutete.

Man kann sich entscheiden, wie man handelt. Es ist die letzte Freiheit, die dem Menschen bleibt. »Würdest Du Dein Leben für andere opfern, oder würdest Du andere für dein Leben opfern?« Das muss sich auch Mira fragen. Sie muss Entscheidungen treffen, immer wieder. Und sich immer wieder ganz neu besinnen und eine Wahl treffen.

Dafür hat Safier eine fiktionale Figur erfunden, was vielleicht manchmal ein Zuviel an zugespitzten Situationen und schrecklichen Momenten schafft. Mit der Kritik daran tut man sich dennoch schwer, da eine nicht zu leugnende Realität dem Roman zugrunde liegt. Man wünscht sich beim Lesen nur, dass auch junge Leser diesen Ansatz begreifen und Miras Geschichte als exemplarisch verstehen. Und dann auch die Antwort in ihrer ganzen Tragweite erfassen können, die Mira am Ende auf die Frage »Was für ein Mensch will ich sein?« findet.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
David Safier: 28 Tage lang
Reinbek: Rowohlt rotfuchs 2014
416 Seiten, 16,95 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren

Reinschauen
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Kunterbunter Kinderalltag

Nächster Artikel

Unter Mythomanen und Paranoikern

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

»Müssen« müssen

Kinderbuch | Henning Löhlein, Charlotte Habersack: Wenn ich aber nicht muss! Wer kennt diese Situation nicht: man steht fix und fertig angezogen da, hat alles zusammen, Schlüssel, Geldbeutel, Hut und Schirm, kann endlich, endlich aufbrechen und dann … verschwindet man sicherheitshalber noch einmal im Stillen Örtchen. Was bei Erwachsenen längst zum ‚sicherheitshalber’ geworden ist, ist für Kinder, besonders für recht kleine, eine ganz schreckliche Geduldsprobe. Ausgedacht, einzig und allein, um die Kleinen zu ärgern, daran gibt es keinen Zweifel. Henning Löhlein und Charlotte Habersack präsentieren mit Wenn ich aber nicht muss! genau so eine Geschichte, mit Verve und Witz und

Vertreibungen

Jugendbuch | Daniel Höra: Das Schicksal der Sterne »Flucht« nennt man es, in Artikeln, in Berichten in Radio und Fernsehen, im Gespräch. »Flüchtlinge« heißen die Betroffenen, dabei flüchten sie meist gar nicht, sondern werden vertrieben. Daniel Höra, ein Jugendbuchautor, der sich sogenannter aktueller politischer Themen annimmt, hat sich in seinem neuesten Buch zu Vertriebenen gestern und heute geäußert. Von MAGALI HEISSLER

Rettung durch die magische Kugel

Jugendbuch | Siri Pettersen: Bubble

Kine ist ein normaler Teenie, und ihr stinkt die Schule, und ihre Mutter geht ihr auf die Nerven. Dann findet sie eine Kugel, in die sie sich retten kann. Aber auch das hat seinen Preis. Und das muss Kine auch erst mühsam und unter Lebensgefahr lernen. Von GEORG PATZER

Warten

Jugendbuch | Hilde K. Kvalvaag. Das ist der Sommer im Paradies, wie er eben aussieht, wenn man die Sonnenbrille absetzt Warten, dass etwas geschieht, warten, dass das Leben beginnt, warten auf die große Liebe, ist eine Haltung, die verlockend sein kann. Bewahrt sie eine doch davor, aktiv zu werden, gleich ob im Handeln oder Nachdenken. Hilde K. Kvalvaag stellt in ihrer zweiten auf Deutsch erschienenen Erzählung eine junge Wartende vor. Und redet auch von den Folgen der Passivität. Von MAGALI HEISSLER

Die größten Wunder

Jugendbücher | Rosemary Sutcliff: Tristans Liebe / Rodney Bennett: Adlerjunge Von Wundern zu lesen ist in Zeiten, in denen Fantasygeschichten en masse kursieren, kein Wunder. Über den Künsten von Hexen, Magiern, Fabelwesen vergisst man jedoch leicht, was die Quelle der eigentlichen Wunder ist. Die Gefühle von Menschen nämlich. Von MAGALI HEISSLER