Kinderbuch | Torun Lian: Alice, die Notfallprinzessin
Schüchtern zu sein macht die Dinge im Leben manchmal schwer. Manchmal sogar unmöglich. Denkt auf jeden Fall Alice. ANDREA WANNER war gespannt auf ihre Geschichte.
Zwischen schüchtern und schüchtern gibt es Unterschiede. Alice gehört zu den Menschen, die so schüchtern sind, dass sie am liebsten unsichtbar wären. Das funktioniert eigentlich ganz gut. Und wenn ein Theaterstück ansteht, auch wenn man nur die passende Rolle findet. Die hat Alice: Sie spielt die Hinterbeine des Pferdes.
Die Titelrolle der »Prinzessin, die niemand zum Schweigen bringen konnte« hat Helene übernommen. Das passt bestens zu ihr: sie hat so viele Freundinnen, ist immer Mittelpunkt und quasselt ununterbrochen. Und der Prinz, den sie im Stück heiraten wird – der zunächst der Tölpelhans ist und erst der königliche Gemahl wird, ist kein anderer als Iver.
Iver ist der Nachbar von Alice und mit ihm kommt sie eigentlich ganz gut klar. Besser gesagt: Kam gut klar. Den die blöde Aufregung um die Aufführung bringt alles durcheinander. Nur gut, dass Alice als Pferdehintern unsichtbar bleibt und die Rolle der Prinzessin nur für den Notfall lernen musste.
Die norwegische Kinder- und Jugendbuchautorin Torun Lian zeichnet die Ängste von Alice so nach, dass man wirklich mit ihr leidet. Panikattacken, Horrorvisionen, Notfallpläne und immer wieder auch eine riesige Wut auf die ganze Welt, besonders aber auf sich selbst, gehören zum Alltag von Alice, die so ganz anders ist als die übrige Familie und als ihre Klassenkameradinnen und Kameraden.
Geduckt und befangen schleicht sie durchs Leben, scheu und verzagt nähert sie sich ihrer Umwelt – und hat doch eine überbordende Fantasie, mit der sie sich in brenzligen Situationen weit weg träumen kann. Schließlich liest sie viel. Da hat sie ihre Ruhe und Kopfkino ist tausendmal besser als alles, was im wahren Leben auf sie wartet. Oder?
Manchmal braucht es Katastrophen und Krisen, damit Menschen über sich hinauswachsen. Lian entwickelt das ganz allmählich, Seite um Seite. Wir lernen Alice kennen, ihre Unfähigkeiten und Unzulänglichkeiten und warten darauf, dass sie ein kleines bisschen Mut entwickelt. Wie das alles passiert, hat Øyvind Torseter – der im vergangenen Jahr für ›Der siebente Bruder oder das Herz im Marmeladenglas‹ mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde – in seinen Illustrationen eingefangen. Leise und unaufgeregt und dabei ungeheuer witzig bringen seine Figuren die handelnden Personen treffend auf den Punkt.
Kann man Schüchternheit überwinden? Sicher nicht mit einem gut gemeinten »Mach halt einfach!« von jemandem, der das Gefühl nicht kennt. Alice auf ihrem Weg ein Stück zu begleiten, ist eine wunderbare Erfahrung – für alle, die genau so sind und für alle, die ganz anders auf das Leben zugehen.
Titelangaben
Torun Lian: Alice, die Notfallprinzessin
Mit Bildern von Øyvind Torseter
(Reserveprinsesse Andersen, 2015). Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Hildesheim: Gerstenberg 2019
160 Seiten, 12 Euro
Kinderbuch ab 9 Jahren
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