TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Lawine
Die Sprache verändert sich, sagt Tilman, sicher, einige Worte geraten in Vergessenheit, andere tauchen auf.
Nichts Neues, sagt Susanne abschätzig. Sie hat sich eine leichte Erkältung zugezogen und sich einen warmen Schal umgelegt, selbstgestrickt, lindgrün, sie trinkt einen Kamillentee, die beiden geben ein idyllisches Bild ab an diesem trüben Nachmittag.
Das ist nicht so einfach, wie man glauben mag, und selbstverständlich ist es schon allemal nicht.
Nicht, fragt Susanne kühl.
Kennst du noch das Wort ›lebensmüde‹?
Das kennt jeder, Tilman.
Es wird nicht mehr aktiv gebraucht, du hörst es nicht und liest es nicht in den Zeitungen. Vielleicht daß niemand lebensmüde ist? Kann ja sein. Gute Laune wird ausgerufen, flächendeckend, die Menschen behandeln einander zuvorkommend, korrekt, alle Leute werden fröhlich, alle lachen und zeigen ihre gepflegten Zähne.
Ihr Pferdegebiß, spottet Susanne.
Wir sind vertraut mit unserer Muttersprache, wir sind damit aufgewachsen, verstehst du, wir haben Mitgefühl, wenn jemand lebensmüde ist, wir kümmern uns.
Wenn es ›lebensmüde‹ nicht länger gibt, muß sich auch niemand kümmern, also was soll die Aufregung, fragt Susanne und rührt sich Honig in den Kamillentee.
›Lebensmüde‹ wurde ersetzt, verstehst du, Susanne, es wurde ausgetauscht.
Ach ja? Dann ist ja alles wieder gut. Sie probiert einen Schluck Tee und rührt sich einen zweiten Löffel Honig ein.
Statt ›lebensmüde‹ sagen wir ›burn out‹ oder ›depressiv‹.
Interessant, spottet Susanne, keine Muttersprache.
Genau. Erstens keine Muttersprache, und außerdem medizinischer Fachjargon. Bei ›lebensmüde‹ wußte jeder, wovon die Rede war, und jeder konnte sich kümmern. Oder?
Wozu ist das jetzt wichtig?
Eine große Lawine entsteht aus kleinen Schneeflocken, Susanne.