//

Karttinger 1

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Karttinger 1

Karttinger, wieso Karttinger, was sei mit Karttinger, habe er nicht seine Familie in der Vendée besuchen wollen.

Davon sei die Rede gewesen, ja, doch bei ihm wisse man nie, sagte Tilman und lachte, und was kümmere den Farb plötzlich der Karttinger, woher kenne er den, das sei doch eine andere Erzählung.

Farb tat sich einen Löffel Schlagsahne auf seine Pflaumenschnitte, warf flüchtig einen Blick hinüber zum Gohliser Schlößchen und verteilte die Sahne sorgfältig über sein Stück Kuchen.

Annika schenkte Tee ein, Yin Zhen.

Ob sie nicht ein Haus in der Nähe von Coulon besäßen, fragte Farb, inmitten des Marais Poitevin, einer der schönsten Regionen des Landes, vergleichbar mit unserem Spreewald.

Er leihe sich von Zeit zu Zeit die Piper von Nahstoll aus und fliege bis Niort, sagte Tilman, von dort sei es nicht weit, erst vor einigen Wochen habe sich die Karttinger in ihrem Haus aufgehalten, sie hatte Besuch von ihrer Tochter.

Kenne ich den Nahstoll?

Wohl eher nicht, sagte Tilman, er lebt in Rahlstedt einige Häuser neben dem Karttingers, eine Reihe ehrwürdiger Villen, Jugendstil, und begibt sich selten unter die Menschen, ich war vergangenen Monat dort, sagte Tilman, und du weißt nie, ob er dir selbst gegenüber steht oder ob es sein Zwillingsbruder ist, mit ihren Albernheiten haben sie es sich beide mit der Karttinger verscherzt, sie schätze den Nahstoll und habe sich übel betrogen gefühlt, als statt des angekündigten Nahstoll dessen Zwilling aufgetaucht sei, wer verfalle auf solch einen Unsinn.

In der Vendée?

Auf einem Elternabend, Farb, in Rahlstedt, es seien harmlose Details, die uns zu schaffen machen, und zumeist laufe nichts wie gewöhnlich, die Verhältnisse seien aus den Fugen, die Eltern hätten eine Reise ihrer Kinder in die Vendée vorbereitet, nach La Tranche-sur-Mer am Atlantik, und man wisse ja auch in Frankreich nicht mehr, in welchen Regionen man ungestörte Urlaubstage verbringe.

Farb aß ein Stück von seiner Pflaumenschnitte.

Die Karttinger sei eine attraktive Frau in den Fünfzigern, sagte Tilman, sie geriere sich als eine Dame von Welt, sie lebe auf großem Fuß.

Nicht unsere Schuhgröße, gewiß, nur was solle das heißen: unsere Schuhgröße.

Die Jugendlichen besuchten sie für einige Tage, sagte Tilman, doch sie sei nicht  begeistert gewesen, als sie zu fünft auf ihren Rädern von La Tranche-sur-Mer eingetroffen seien, sie nehme es genau und hätte mit zwei oder mit drei Gästen gerechnet, doch auf fünf sei sie nicht eingestellt gewesen, diese Art Überraschung habe sie gar nicht gern, sie habe unwirsch reagiert, doch ihr Ärger verflüchtigt sich schnell.

Sie habe ihren Platz gefunden, sagte Annika und lächelte, einen Sehnsuchtsort, ein Idyll in der Vendée, eine Bastion, nun sei es die unbekümmerte Jugend, die ihr zu schaffen mache, irgendwas sei immer.

Sie fühle sich bedrängt, ständig das Gefühl, die Dinge glitten ihr aus den Händen, sagte Tilman, dabei habe es dafür keinen Grund gegeben, Laura kenne ihre Mutter und wisse mit ihr umzugehen, die Karttinger sei um diese Tochter zu beneiden, sie hätten eigens ein Zelt mitgebracht und es auf dem Grundstück aufgeschlagen.

Farb war amüsiert. Luxusprobleme, sagte er.

Davon gehe die Welt nicht unter, sagte Annika.

Wohl kaum, sagte Tilman, doch es seien die Details, die uns umtreiben, du verstehst, die liebevoll gepflegten Abläufe würden gestört, das Eis werde dünn, daß es knackt und knistert, der Alltag drohe einzubrechen, wo wir es am wenigsten erwarten, wir seien der sich heranwälzenden Katastrophe nicht gewachsen.

Vorsicht, sagte Farb, die Lage sei hochexplosiv, spottete er und aß ein zweites Stück von seiner Pflaumenschnitte.

Und, fragte Annika, sei auch der Karttinger eingetroffen.

Er sei noch aufgetaucht, ja, sagte Tilman, jovial im Umgang mit den jugendlichen Gästen, von deren Anwesenheit er zuvor nicht gewußt habe, er sei in Paris mit Nahstoll verabredet gewesen, der dort beruflich zu tun gehabt habe, und wie immer gut gelaunt, unerschütterlich gut gelaunt, er falle gern mit der Tür ins Haus, er sei etliche Jahre in der Politik erfolgreich gewesen und habe erst kürzlich zur Führungsebene eines Pharmakonzerns gewechselt, das öffentliche Gezänk sei extrem belastend – ihr Ehemann, ja, der habe ihr gerade gefehlt.

Er gehe seine eigenen Wege, sagte Annika, und letztlich handle es sich bei ihm um viel aufwendig gepflegte Kulisse.

Typus gutmütiger Patriarch, sagte Farb, friedfertig gestrickt, sagte er, faszinierend, man müsse ihn wohl erlebt haben, fügte er hinzu, und seine Augen nahmen einen sehnsüchtigen Ausdruck an, man würde nicht schlecht staunen, daß er, den Widrigkeiten trotzend, sich in der Balance halte, ein Fels, möchte man meinen, inmitten der Brandung.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wer spart nicht gern

Nächster Artikel

Ungewöhnliche Shoppingtouren

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Berlin

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Berlin

Berlin, erinnerte sich Rostock, Berlin liege gar nicht weit entfernt von seiner Heimatstadt, er habe von Bremerhaven aus den Atlantik überquert und in Nantucket ausgemustert.

So sei es vielen ergangen, sagte London, die Überfahrt war strapaziös, und an der Ostküste habe man in Nantucket gleich anheuern können, denn die Jahrzehnte des amerikanischen Walfangs brachen an.

Was es auf sich habe mit Berlin, fragte Bildoon, weshalb, die Stadt liege auf der anderen Seite des Planeten, was kümmere ihn das.

Es sei eine andere Zeit, sagte Pirelli, von Walfang sei dort keine Rede mehr.

Am Ende alles gut

Roman | Helga Schubert: Vom Aufstehen

Helga Schubert ist eine deutsche Schriftstellerin und Psychologin. In den 29 autobiographischen Erzählungen des Bandes Vom Aufstehen zieht sie ein breit angelegtes Fazit ihres 80-jährigen Lebens: Sie berichtet darin persönliche Erinnerungen an ihre Großeltern und Eltern ebenso wie Erlebnisse aus ihrer Zeit als Schriftstellerin in der DDR oder aus der Zeit der Wende, in der sie sich in der Kirche engagierte. Von FLORIAN BIRNMEYER

Chiffrierter Geheimnisträger statt Volkstümelei

Kurzprosa | Alexander Graeff: Runen Dass Hundehalter sich im Laufe der Zeit dem Charakter (und oftmals auch der Optik) ihres Schützlings anpassen würden, wurde bereits in jeder Zeitschrift von Lisa bis Focus ausgiebig behauptet. Gleiches soll auch für Menschen gelten, die lange zusammenleben. Als männliche Hälfte eines Ehepaares, das die Petersilienhochzeit bereits deutlich hinter sich gelassen hat, ist es mir erfreulicherweise dennoch gelungen, trotz innigster Verbundenheit in einigen Bereichen Freiräume und eigene Ansichten zu bewahren. STEFAN HEUER bespricht Alexander Graeffs Prosaminiaturen Runen.

Vorsorge

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Vorsorge

Weshalb niemand über Vorsorge redet, das verstehe, wer will.

Sie reden nicht über Vorsorge? Die aktuelle Debatte liegt falsch?

Sie reden darüber, die Extreme auszubremsen, Farb, sie wollen den CO2-Ausstoß begrenzen und streiten über Zahlen.

Das wäre keine Vorsorge?

Nein, das ist der Versuch, eine rasante Entwicklung zu entschleunigen, ohne die zugrundeliegenden irrigen Abläufe anzutasten.

Vielleicht dennoch ein unumgänglicher Versuch?

Erzähler und Zuhörer

Kurzprosa | Uwe Timm: Montaignes Turm »Ich bin überzeugt, dass wir in unserer Seele einen besonderen Teil haben, der einem anderen vorbehalten ist. Dort sehen wir die Idee unserer anderen Hälfte, wir suchen nach dem Vollkommenen im anderen«, erklärte der männliche Protagonist Eschenbach in Uwe Timms letztem Roman Vogelweide (2013). Mit diesem äußerst anspielungsreichen Buch hatte Timm nicht nur einmal mehr seine immense Vielseitigkeit unter Beweis gestellt, sondern den Gipfel seines bisherigen künstlerischen Schaffens erklommen. Jetzt ist sein Essayband Montaignes Turm zu seinem 75. Geburtstag am 30. März erschienen. Von PETER MOHR