Jugendbuch | Tae Keller: Wie man Wunder wachsen lässt
Wer hat schon den Nerv, die Welt wissenschaftlich zu betrachten, wenn alles Drunter und Drüber geht? Ein Laborbuch als Langzeitprojekt? Eine selbst entwickelte wissenschaftliche Fragestellung? Die elfjährige Natalie hat ganz andere Probleme. Von ANDREA WANNER
Es gab eine Zeit, da war alles in Ordnung. Da war Natalies Mutter noch da und unterstütze Natalie. Jetzt hat sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen, unerreichbar für Tochter und Ehemann. Was genau geschehen ist, reimt sich Natalie selbst zusammen, setzt Puzzlestücke zusammen, bis sie für sie ein logisches Bild ergeben. Dass sie dabei kein bisschen wissenschaftlich vorgeht und sich eben sich auf Tatsachen stützt, merkt sie nicht. So entwickelt sich das Projekt in der Schule, das der begeisterungsfähige Lehrer Mr Neely mit seinen Schülerinnen und Schülern durchführt, gegenläufig zur Methode, die Natalie für ihre ganz privaten Sorgen anwendet.
Kein Wort, zu niemandem
Ihre Taktik ist Abschottung und Verweigerung. Gegenüber dem Vater, der selbst Therapeut ist. Gegenüber der Therapeutin, die er für seine Tochter sucht und findet. Gegenüber Twig, ihrer besten Freundin. Statt zu reden, entwickelt Natalie einen Plan, wie sie ihre Mutter zurück ins Leben holen will. Ihre Mutter ist Botanikerin und hat ihren Job in einem Forschungslabor verloren. Sie untersuchte eine ganz besondere Pflanze, eine kobaltblaue Orchidee, die es nur in New Mexico gibt und die dort nach einem Umweltunglück wuchs. Diese blaue Blume wird zu Natalies Ziel und fixer Idee. Zur Finanzierung der Reise – das Geld ist knapp, seit nur noch ein Elternteil Geld verdient – will sie einen Forschungswettbewerb gewinnen. Und wenn sie dann endlich diese blaue Blume haben, wird alles wie früher – wird alles gut.
Tae Keller, geboren 1993, ist in Honolulu, Hawaii, aufgewachsen. Mit ihrem ersten auf Deutsch erschienen Jugendbuch beweist sie großes Geschick, schwierige Themen altersgerecht zu verpacken. Der Kontrast zwischen Wissenschaft und überlegtem Vorgehen, in Versuchsanordnung, Fragestellungen, Listen und Notizen akkurat formuliert und Gefühlen, die zwischen Angst, Wut und Verzweiflung schwanken, macht auf unaufdringliche Art Natalies Konflikt spürbar.
Es dauert lange, bis das Wort Depression fällt. Zu diesem Zeitpunkt ist es kein fremdes Wort mehr, sondern eines, das einen Zustand beschreibt, der sehr anschaulich geschildert wird. Natalies Einsamkeit und Ängsten wird die gemeinsame Zeit mit ihren Freunden – zu Twig kommt noch Dari, ein Klassenkamerad dazu – entgegengestellt. Kein Mensch kann so etwas alleine tragen und ertragen, ein 11jähriges Mädchen schon gar nicht. Trost, Zusammenhalt und schließlich ein verrückter Plan, wie ihn nur 11jährige schmieden können, sind funktionierende Gegengewichte zu der Schwere des Themas, ohne dabei etwas zu verwässern.
Es gibt Lösungen, aber wenn man elf ist, ist man nicht dafür verantwortlich, sie zu finden. Das verstehen am Ende alle. Und Pflanzen, die wachsen und lebendig sind, können helfen, genau diese Lebendigkeit zu spüren. Blaue Orchideen müssen es nicht sein. Und wissenschaftliche Denkweisen haben tatsächlich auch in ganz banalen Alltagssituationen auch ihre Daseinsberechtigung. Das beweist am Ende des Schuljahres Natalies Laborbuch. Richtige Antworten bekommt man nur, wenn man die richtigen Fragen stellt und die wiederum zu finden, ist eine große Kunst. Tae Keller findet sie.
Titelangaben
Tae Keller: Wie man Wunder wachsen lässt
(The Science of Breakable Things, 2018)
Aus dem Amerikanischen von Susanne Hornfeck
Frankfurt am Main: Fischer 2018
288 Seiten, 15 Euro
Jugendbuch ab 11 Jahren
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