/

Er liebte die Extreme

Menschen | Zum Tode des Schriftstellers Günter Herburger

»Man muss offen sein für Erschöpfung. Ich bin in diese Erschöpfung hineingelaufen, es kam der zweite Wind, und ich dachte: Was ist das?«, erklärte der Schriftsteller Günter Herburger einst seine ersten Leidenserfahrungen beim Marathonlauf. Ein Porträt von PETER MOHR

Günther Herburger
Günther Herburger
Foto: Catherina Hess
Extreme standen bei Herburger ganz hoch im Kurs – literarisch, politisch und eben auch in der Freizeit. In den wilden 1960er Jahren schloss er sich der DKP an, 15 Jahre arbeitete er an seiner Thuja-Mammuttrilogie, und eines seiner prägenden Erlebnisse war die Teilnahme am 235 km langen Ultra-Marathonlauf von Athen nach Sparta.

Nach eigenem Bekunden hat er nur einmal in Berlin die »klassische Strecke« auf Zeit gelaufen, um seinem Sohn zu imponieren: »Der will doch den tollen Papa sehen, da habe ich alle vor mir aufgerollt und hetzte den Kudamm hinauf… Es hat nichts genützt. Geschämt hat er sich, weil ich so erschöpft war im Ziel. Ich schwitzte und fror und hab mich auf dem Kudamm nackt ausgezogen, was einem ja wurscht ist, wenn man völlig von Sinnen ist.«

Günter Herburger, der am 6. April 1932 in Isny im Allgäu als Sohn eines Tierarztes geboren wurde, war ein Mann, der die Herausforderungen förmlich suchte, der literarisch wie körperlich als unermüdlicher Grenzerforscher tätig war. Die Affinität zum Außergewöhnlichen zeigte sich schon in den 1950er Jahren, als er in Paris Sanskrit studierte. Seit einem kurzen Zwischenspiel Anfang der 1960er Jahre als Fernsehredakteur für Kindersendungen in Stuttgart arbeitete er als freier Schriftsteller.

Doch ganz ohne Folgen blieb das TV-Intermezzo nicht, denn Herburger, der viele Jahre in München lebte und zuletzt in Berlin ansässig war, trat später noch wiederholt als Autor der »Birne«-Kinderbücher in Erscheinung. Seine ersten künstlerischen Meriten erwarb er als Hörspielautor, es folgte ein kurzes Gastspiel als Filmemacher, ehe sich Herburger in den 1970er Jahren ganz der Erzählliteratur zuwandte und sich als Vorreiter der postmodernen Literatur entpuppte. Ein erstes Beispiel dafür lieferte die von Bernhard Wicki verfilmte Erzählung ›Die Eroberung der Zitadelle‹ (1972).

Eines der gelungensten Bücher ist noch heute die 1984 erschienene Erzählung ›Capri‹, in der die Phantasie und Technik eines Diebes der Arbeitsweise eines Schriftstellers gegenübergestellt wird.

Für Freunde bekenntnishaft-selbstzerfleischender Literatur sind Herburgers stark autobiografisch gefärbte Marathon-Bücher ›Lauf und Wahn‹ (1988), ›Traum und Bahn‹ (1995) und ›Schlaf und Strecke‹ (2005) Pflichtlektüre.

Zuletzt hatte Herburger 2016 den skurril-märchenhaften Heimatroman ›Wildnis, singend‹ vorgelegt, in dem es von sprechenden Tieren wimmelte.

Mehr als 50 Jahre hatte Herburger darüber hinaus dem Gedicht die Treue gehalten. Seit dem Band ›Ventile‹ (1966) hat er sich kontinuierlich auch mit Lyrikbänden zu Wort gemeldet – zuletzt vor acht Jahren mit ›Ein Loch in der Landschaft‹. Im Vorwort zu seinem Gedichtband ›Orchidee‹ (1977) hatte er seinen Lesern geraten, ›Gedichte wie Luftschiffe zu benützen, denn wer nicht zu fliegen wage, verzichte auf Übersicht und Mut‹.

Zwischen Luftschiffen und Marathonläufen hat sich Günter Herburger in unserer schnelllebigen Zeit eine gehörige Portion Individualität bewahrt. Am Samstag ist Herburger im Alter von 86 Jahren an den Folgen eines Unfalls in seiner Wahlheimat Berlin gestorben.

| PETER MOHR
| Titelbild: Catherina Hess / A1-Verlag

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wie alles begann

Nächster Artikel

Gratis Comic Tag 2018

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Please no unnecessary drama, baby!

Bühne | Im Porträt: Die Hamburger Regisseurin Denise Stellmann

Die Hamburger Jung-Regisseurin Denise Stellmann ist klein und süß – auf den ersten Blick. Denn sie spricht aus, was viele nicht einmal zu denken wagen. Ein Porträt über ein junges, (bühnen)reifes Leben voller Emotionen jenseits bekannter Künstlerklischees und -attitüden. Denn die Bühnenkunst soll in ihrer Vorstellung vor allem eins: Bewegen. Von MONA KAMPE

Herta Müller und die Wörter

Menschen | Herta Müller: Lebensangst und Worthunger »Ich wurde lebenshungrig, gespenstisch erpicht aufs Leben, und sei es noch so kompliziert.« Herta Müller im Gespräch mit Michael Lentz. Von THEO BREUER

Nacktes Grauen selbst erlebt

Menschen | Karl Marlantes: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Als Karl Marlantes 1968 für die USA in den Vietnamkrieg zieht, hat er die typischen Motive der meisten Soldaten: Er will seine Männlichkeit beweisen, er will raus aus dem Einerlei, sehnt sich nach etwas »Höherem«. Nicht nur mit Tapferkeitsorden kommt er zurück – seine Lebensbilanz »Was es heißt, in den Krieg zu ziehen« sucht nach einem Moralkodex für Kriege. Hochaktueller Stoff für hier und heute, wo es wieder mal nach einem Sieg säbelrasselnder Dummheit riecht. Von PIEKE BIERMANN

Prosa als fehlender Rest

Menschen | Zum Tod von Jürgen Becker

»Vielleicht ein Versuch, die Zeit aufzuhalten und geräumtes Gelände zurückzugewinnen. Weit kommst du nicht mehr, aber fang nicht damit an, deine Schritte zu zählen; allein dein Schatten, falls Sonne vorhanden, begleitet dich«, hieß es im Band ›Die Rückkehr der Gewohnheiten‹ (2022) aus der Feder des viele Jahrzehnte unterschätzten Schriftstellers Jürgen Becker. Als »eine maßgebliche Stimme der zeitgenössischen Poesie« wurde Becker 2014 völlig zu Recht bezeichnet, als ihm der Georg-Büchner-Preis, die wichtigste literarische Auszeichnung Deutschlands, verliehen wurde. Von PETER MOHR

The deadly threat of friendly Euro fire

Portrait | Costas Douzinas im Interview Der griechische Philosoph und Rechtswissenschaftler Costas Douzinas lebt heute in London und lehrt am Birkbeck College der Universität. Er präsentiert zurzeit in Deutschland sein jüngstes Buch ›Philosophie und Widerstand in der Krise‹. Im Interview mit WOLF SENFF spricht er über europäische und deutsche Politik, den Einfluss des IWF auf Griechenland, die Wirkung von Demonstrationen und die Krise in der Ukraine.