Eine sehr langsame Form der Reportage

Comic Spezial | Comic-Journalismus

Spätestens seit dem »rasenden Reporter« Egon Erwin Kisch (der in Wirklichkeit ziemlich gründlich und langsam arbeitete) verbinden wir mit einem Journalisten das Bild eines Mannes, der sich mit Notizblock und Kamera an Orten aufhält, wo wichtige Dinge passieren. Er kann aber auch mit Zeichenbrett und Skizzenblock ausgerüstet sein. Der 18. Internationale Comic Salon Erlangen warf ein Schlaglicht auf das Genre des Comic-Journalismus, das vor allem in den klassischen frankobelgischen und angelsächsischen Comicländern zu boomen scheint. ANDREAS ALT hat sich informiert.

Der »rasende Reporter« Egon Erwin Kisch
In Frankreich gibt es ein vierteljährlich erscheinendes Magazin, das sich ausschließlich Comic-Reportagen widmet: ›La Revue dessinée‹. Ein Heft wie der ›Spiegel‹, aber gefüllt von vorne bis hinten mit Comics, und zwar zu relevanten Themen: Politische Konflikte, Umweltzerstörung, gesellschaftliche Entwicklungen. Comics, die auf Recherchen beruhen und Menschen und Sachverhalte mehr oder weniger realistisch dokumentierend wiedergeben. Das Magazin wurde in der Ausstellung ›Zeich(n)en der Zeit‹ im Stadtmuseum Erlangen vorgestellt, samt einiger beispielhafter Reportagen.

Und es gibt noch mehr als das, vor allem im Internet. Auf bestimmten Plattformen werden dort ebenfalls regelmäßig Comic-Reportagen veröffentlicht, etwa unter der Adresse http://thenib.com/ oder http://drawingthetimes.com/. Comic-Reporter arbeiten in Frankreich, Belgien, Holland, Großbritannien oder den USA. Bei uns ist das Phänomen Comic-Reportage nicht völlig unbekannt. Es bildet aber eher eine Untergruppe im immer noch boomenden Bereich Graphic Novel. Aufmerksamkeit erregen sie bevorzugt dann, wenn es um Reizthemen wie Islam oder Naher Osten geht oder wenn es sich um Comic-Biografien bekannter Persönlichkeiten handelt. Als eigenständiges Genre werden sie hier eher nicht wahrgenommen; Künstler, die sich speziell Comic-Reportagen widmen, wirken exzentrisch.

Doch in Ländern, in denen Comics ohnehin einen höheren Stellenwert haben und gute Leute vom Zeichnen leben können, kann man offenbar auch den Beruf Comic-Reporter wählen – wenn auch Guy Delisle, ein bekannter Vertreter dieses Genres, anmerkt, er mache eine »sehr langsame Form der Reportage«. Comics zu zeichnen braucht Zeit – insbesondere wenn sie möglicherweise mehrere 100 Seiten umfassen. Da wäre es interessant zu erfahren, wie die Arbeitsbedingungen aussehen, wie die Künstler ihre Themen wählen (die überholt sein oder sich zumindest stark verändert haben können, bis der umfangreiche Reportage-Comic fertig ist), und ob sie diese Arbeit wirklich ernährt. Freilich: Auch ein Sachbuch zu schreiben kann viele Monate oder gar Jahre dauern.

Stilistisch ist die Bandbreite groß

Stilistisch zeigen die ausgestellten Comics eine große Bandbreite. Manche wirken auch optisch sehr dokumentarisch. Fotorealismus ist zwar nicht die Maxime, aber in diesen Fällen sollen die Gegebenheiten auch visuell sehr deutlich und übersichtlich geordnet sein. Andere Comics wirken im- oder expressionistisch. Es ergibt sich der Eindruck, dass jeder Comic-Journalist seinen individuell charakteristischen Ausdruck finden will und kann.

In einer kleinen Abteilung wird zudem gezeigt, wie Druckwerke wie ›Le petit Journal‹ oder die Berliner ›Illustrierte Zeitung‹ illustrative Elemente einsetzten, bevor sich die Fotografie durchsetzte. Noch in den 1960er Jahren wurden Theaterszenen für Kritiken nicht nur fotografiert, sondern auch grafisch dargestellt. Heute werden Zeichnungen eigentlich nur noch bei Gerichtsberichten verwendet, wenn – wie in Deutschland – während eines Prozesses nicht fotografiert werden darf. Doch auch das Metier des Gerichtszeichners ist inzwischen bedroht. Die Ausstellung ›Zeich(n)en der Zeit‹ ist noch bis zum 26. August im Stadtmuseum Erlangen zu sehen.

Prof. Vanderbeke
Prof. Dirk Vanderbeke
Aber wie ist das Genre entstanden? Prof. Dirk Vanderbeke, Anglist an der Uni Jena, versuchte, die Entwicklung journalistischer Comics geschichtlich herzuleiten. Er identifizierte dokumentarische Bilderzählungen bereits in großer Zahl in der Antike (Reliefs) und im Mittelalter (Kirchen-Glasbilder). Ab der frühen Neuzeit wurde das breite Volk durch Pamphlete, also Flugblätter, informiert. Die Themen blieben immer gleich: Kriminalität und Justiz, Religion, Politik und Geschichte. Auch Bänkelsänger arbeiten mit solchen Bildfolgen. Bilder und Texte stehen oft nebeneinander, Bilder sind aber unverzichtbar, weil bis etwas 1800 ein großer Teil der Bevölkerung des Lesens nicht mächtig ist. Es gibt aber bereits Sprechblasen. Aus ökonomischen Gründen werden Figuren oft mehrmals in ein und derselben Kulisse gezeigt: erst im Konflikt, dann etwa bei ihrer Ermordung und noch einmal als Tote. Auch wer nicht lesen konnte, verstand die Geschichte.

Die letzten Worte des Hingerichteten sind schon vorher festgehalten

Heutige journalistische Maßstäbe können aber an diese Flugblätter nicht angelegt werden: Gern wurden sie bei Hinrichtungen verkauft, und man konnte sich bereits über das Geschehen einschließlich der letzten Worte des Delinquenten informieren, bevor er überhaupt zu Tode gebracht worden war. Vanderbeke wies auch darauf hin, dass die Protagonisten auf den Bildern immer wieder anders aussehen. Der Bildschnitzer wusste oft nicht, wie ein König – über den berichtet wurde – überhaupt aussah – seine Leser aber wohl noch weniger.

Durch die allgemeine Schulpflicht kommt es dann zu einer Trennung von Wort und Bild. Die ersten Zeitungen boten fast nur gesetzte Texte. Bilder wandern auf gesonderte Seiten und werden humoristisch. Das bloße Dokumentieren ist nun nicht mehr ihre Aufgabe. Grafische Bilder werden zugleich durch die aufkommende Fotografie an den Rand gedrängt. Als Ende des 19. Jahrhunderts die ersten echten Comics erscheinen, ist ihr Platz in gesonderten Zeitungsbeilagen. Die Bildgeschichten werden also in den Augen des Referenten verdrängt – und zunehmend zu einem Medium für Kinder.

Underground-Comics sind die Wiege des Comic-Journalismus

Comic-Reportagen haben laut Vanderbeke ihren Ursprung in den Underground- und Alternativ-Comics der 1960er Jahre: Die Comics werden autobiografisch, die subjektive Sicht des Autors wird also wichtig; es geht um politische Themen; es ist generell eine Nähe zum damals ebenfalls aufkommenden »New Journalism« (Hunter S. Thompson, Tom Wolfe) erkennbar. Damit wenden sich Comics wieder an Erwachsene, und wie in den Hinrichtungs-Flugblättern, die signalisierten: Verbrecher bekommen ihre gerechte Strafe, wird nun wieder eine politisch-moralische Botschaft vermittelt.

Auf die Frage, warum journalistische Comics produziert werden, hatte der Referent mehrere Antworten. Ein Comic-Reporter kann auch da arbeiten, wo Fotografieren verboten ist, etwa in Strafgefangenenlagern. So dokumentierte die Zeichnerin Aimée de Jongh die Verhältnisse in einem Flüchtlingslager auf Lesbos, zu dem herkömmliche Journalisten keinen Zutritt haben. Ein Comic-Reporter, der ohne Kamera auftaucht, kann auch tabuisierte Themen aufgreifen. Er hat bessere Möglichkeiten, kulturelle Unterschiede darzustellen. Er kann zur Verdeutlichung auch Dinge verfremden oder fiktive Elemente hinzufügen. Dieser Weg steht auch Filmdokumentationen offen, dem schreibenden oder dem Fotojournalismus aber eher nicht. Schließlich führte Vanderbeke an, dass Comics Sympathie gewinnen können – dadurch, dass sie den subjektiven Blick des Künstlers betonen (der selbst in seinem Werk auftreten kann) und die Aura des Unvollkommenen ausstrahlen.

Reporterinnen setzen sich in Comics handfest durch

Martin Frenzel
Martin Frenzel
Es ging auch darum, wie Journalismus in Comics dargestellt wird. Comicexperte Martin Frenzel wies in seinem Vortrag ›Rasende Comic-Reporter‹ auf ein Kuriosum hin: In Comics treten nicht nur auffallend viele Journalisten und Reporter auf, sie sind auch seit den 1920er Jahren häufig Frauen: ›Jane Arden‹ war 1927 wohl die erste Comic-Reporterin. Die Serie lief bis 1968 und erfreute sich vor allem in Kanada und Australien großer Beliebtheit. Bekannt ist auch die ebenfalls im Pressebereich arbeitende ›Brenda Starr‹. Diese Comicfrauen sind durch ihre Arbeit bemerkenswert emanzipiert und setzen sich auch handfest gegen ihre Gegner durch. Lois Lane steht zwar meist im Schatten ihres Freundes Superman, hatte aber immerhin ihre eigene Heftserie und ist unzweifelhaft die bessere Journalistin als Supermans Alter Ego Clark Kent. Als weiteres Beispiel führte Frenzel die Vampir-Reporterin ›Becky Burdock‹ an.

Es gibt aber noch viele weitere Comic-Reporter: Der berühmte Tim (›Tintin‹) gehört dazu, auch wenn er seinen Beruf nur in den ersten beiden Alben ausübt. Er hatte möglicherweise ein reales Vorbild: den zu seiner Zeit berühmten Reporterjungen Palle Huld. Fantasio aus ›Spirou‹ sattelt im Lauf der Serie vom Immobilienhändler zum Journalisten um. ›Rick Master“ ist zwar vor allem Privatdetektiv, aber auch Reporter. ›Spider-Man‹ ist in seiner anderen Identität als Peter Parker Fotojournalist. Weitere Beispiele: ›Luc Frank‹ und ›Frank Cappa‹. Ein sehr ungewöhnlicher, schillernder und zynischer Journalist ist Spider Jerusalem aus der Comicserie ›Transmetropolitan‹.

Frenzel resümierte: Comicreporter arbeiten sehr häufig an der Schnittstelle zum Politischen und zum Detektivischen. Sie sind eben keine Musterjournalisten, die sich nicht einmischen und aufs Beobachten und Dokumentieren beschränken, sondern sie greifen aktiv ins Abenteuer ein – was die Sache erst spannend und unterhaltsam macht.

| ANDREAS ALT
| TITELFOTO: EGON KISCH [M]: JÖRG FUCHS

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