Mit ›Zwei weibliche Halbakte‹, benannt nach Otto Muellers gleichnamigem Gemälde, entführt der ehemalige ›Charlie Hebdo‹-Zeichner seine Leser ins Deutschland der Zeit der Machtergreifung der Nazis. Der Clou der grandiosen Erzählung: Er ist konsequent aus der Sicht der abgebildeten Damen geschildert. In deutscher Übersetzung erschien der Band jüngst bei Reprodukt. CHRISTIAN NEUBERT hat ihn sich angesehen.
»Picasso, Adler, Kandinsky, Dix, Grosz, Pechstein, Marc, Schmidt-Rottluff, Corinth, Chagall, Kirchner … Die Nazis veranstalten die außergewöhnlichste Ausstellung Moderner Kunst der Geschichte«, sagt der Kölner Anwalt und Kunstsammler Josef Haubrich zu seiner Frau Alice, als sie die Ausstellung ›Entartete Kunst‹ in München besuchen. Sie wurde aus propagandistischen Zwecken konzipiert, von Adolf Ziegler, Hitlers Lieblingsmaler – und fand rund dreimal mehr Besucher als die parallel stattfindende ›Große Deutsche Kunstausstellung‹.
Es sind skurrile Randnotizen wie diese, die den neuen Comic des ehemaligen ›Charlie Hebdo‹-Zeichners Luz, der das islamistische Attentat auf die Redaktion der Satirezeitschrift seinerzeit überlebt hat, so großartig machen: ›Zwei weibliche Halbakte‹. Der Titel des Bands ist einem Gemälde von Otto Mueller entlehnt. Luz stellt das Kunstwerk ins Zentrum seiner Erzählung, die acht Jahrzehnte deutsche Geschichte nachempfindet – ausgehend von der Entstehung des Werks in einem Wald nahe Berlin 1919, über die Verfemung des Werks als »kulturbolschewistische Darstellung pornographischen Charakters« bis zu seinem »Comeback« im Museum Ludwig in Köln im Jahr 2000.
Erzählerischer Kunstkniff
Der Clou des Comics ist dabei ein besonderer Kniff: Luz erzählt die Geschichte konsequent aus der Perspektive des Gemäldes. Er macht die beiden Halbakte zu stummen Beobachtern. Der gesamte Comic zeigt demnach das, was sich unmittelbar vor ihnen ereignet – so, als könnten sie sehen und hören. Weswegen man als Leser, logische Konsequenz, das Bild selbst im Comic nie zu sehen bekommt.
Der verschlungene Weg des Gemäldes führt einen unter anderem in das Anwesen des Anwalts und Sammlers Ismar Littman, bis es – von der Gestapo beschlagnahmt – im Berliner Kronprinzen-Palais eingelagert und schließlich für die Ausstellung nach München verfrachtet wird. Die szenischen Dialoge, die Muellers weiblichen Halbakte innerhalb der zahlreichen Stationen einfangen – und das, was sie beispielsweise, rein auf der Bildebene, durch Fenster beobachten – zeigen die Machtergreifung der Nazis gleichermaßen plakativ und subtil: pöbelnde NSDAP-Mitglieder, die obdachlose und jüdische Menschen tyrannisieren, ein Hitler-Plakat, das über eines von Bismarck geklebt wird, Hakenkreuzschmierereien, Naziaufmärsche.
Ernsthaft und humorvoll, komplex und leichtfüßig
Die Art und Weise, wie Luz mit diesem Comic Geschichte vermittelt, parallel Otto Mueller porträtiert sowie Einblicke in den Kunstbetrieb gewährt, ist schlichtweg grandios. Der Entwurf seines Gesellschaftsporträts ist komplex arrangiert, aber leichtfüßig inszeniert – und trotz der Bitterkeit seines Sujets sogar ungemein komisch. Wenn Nazis in dem Band mit maximaler Widersprüchlichkeit über Kunst schwadronieren oder die Bilder für die Ausstellung zur »Entarteten Kunst« haargenau so schief aufgehängt werden, dass sie das passende Maß an Krankheit und Verwahrlosung vermitteln, erlebt man große humoristische Momente, die in ihrer Absurdität auch Monty Python grüßen lassen. Luz‘ karikierende, zurückhaltend kolorierte Zeichnungen verstärken diesen Eindruck noch.
Spätestens an diesen Stellen offenbart der Comic aber seine beklemmende Aktualität. Denn auch wenn er vordergründig von Deutschlands dunkelster Epoche erzählt: Er zeigt, dass Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und ernsthafte Versuche, Kunst und Kultur staatlich lenken zu wollen, keinesfalls Themen sind, die wir als gestrig abtun können.
Titelangaben
Luz: Zwei weibliche Halbakte
Aus dem Französischen von Lilian Pithan
Berlin: Reprodukt 2025
192 Seiten, 29 Euro