Chinesisch für Anfänger*innen: mama huhu

Jugendbuch | Mette Eike Neerlin: Pferd, Pferd, Tiger, Tiger

Das chinesische Sprichwort mama huhu, übersetzt Pferd, Pferd, Tiger, Tiger, bedeutet, dass etwas nicht wirklich gut ist, aber schlimmer sein könnte. Für die 15jährige Honey heißt das, dass sie sich mit allem arrangiert, nie Nein sagt, sondern permanent versucht, es allen recht zu machen. Eine Aufgabe, an der man eigentlich nur scheitern kann, oder. Von ANDREA WANNER

Pferd Tiger_9783791500348Honeys Leben ist alles andere als einfach. Sie lebt zusammen mit ihrer hirngeschädigten älteren Schwester und der überforderten Mutter, ihren drogendealenden Vater trifft sie vor allem dann, wenn er sie zu einer Tasse heißer Schokolade einlädt – um Honey bezahlen zu lassen und noch Geld zu schnorren. Honey ist nicht unglücklich, im Gegenteil, sie findet, dass andere es viel schwerer haben.

So beginnt die Geschichte auch mit einem erschütternden »Meine Mutter hatte kein besonders großes Glück mit ihren Kindern.« Damit meint sie die geistige Behinderung ihrer Schwester Mikala und ihre eigene Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, mit der sie auf die Welt kam. »Ehrlich gesagt, ich sah aus wie ein Monster.« Wer so auf sich selbst schaut, auch nach der Operation vor allem die Defizite wahrnimmt – eine flache und schiefe Nase, eine große und vernarbte Oberlippe – entwickelt Strategien, damit umzugehen. Honey sagt zu allem ja und macht sich ansonsten unsichtbar.

Das führt zu merkwürdigen Situationen. Zum Beispiel dazu, dass sie zufällig in einem Chinesischkurs landet und sich nicht traut, das Missverständnis aufzuklären. Oder, dass sie alles tut, damit Mikala zufrieden ist. Die will sogar Honeys Begleitung aufs Klo und tobt, wenn Honey ihren Wünschen nicht sofort nachkommt. Oder ihrem Vater immer das Geld gibt, das er will. Schließlich ist er ja immerhin ihr Vater. Der sogar mit ihr shoppen geht, als sie zu einer Party eingeladen wird. Dass er das sexy Kleid, das Honey schrecklich findet, dann einfach klaut, ist eine andere Sache. Oder dazu, dass sie Marcel kennenlernt, einen alten Mann, der im Sterben liegt. Einfach nur, weil sie nicht rechtzeitig klarstellen kann, dass sie nicht seine Enkelin ist.

Honey ist auf eine merkwürdige Art mit den Dingen verflochten. Alles um sie und ihr Leben in Kopenhagen herum wird immer komplizierter, weil sie nicht in der Lage ist, ihre eigenen Bedürfnisse zu äußern, weil sie den direkten Konflikt scheut, immer bemüht, die Wünsche anderer zu erfüllen. Auf eine leise, freundliche Art schleicht sie durchs Leben – und wächst einem beim Lesen Seite um Seite ans Herz.

Die dänische Autorin Mette Eike Neerlin lässt die 15jährige in eigenen Worten erzählen. Die Ungerechtigkeit, mit der sie behandelt wird – ohne dass sie es merkt – schnürt einem dabei fast den Hals zu. Aber auch die Zeichen, dass sie wertgeschätzt und gemocht wird, die Honey einfach übersieht, lassen einen ganz kribblig werden. Es ist ein schwieriger Prozess, der viel mit der Freundschaft zu dem todkranken Marcel zu tun hat, der Honey allmählich anders auf sich, ihr Leben und ihre Umgebung blicken lässt. Ohne auch die dramatischen Ereignisse wirklich drastisch zu schildern, sondern eher beiläufig und leise, wie es Honeys Art ist, spitzt sich die Situation allmählich zu. Humorvoll und warmherzig, so wie es zu der 15jährigen passt, findet sich ein Ende, das Honey belohnt. Und die Leser dieser unvergesslichen Geschichte auch.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Mette Eike Neerlin: Pferd, Pferd, Tiger, Tiger
(Hest, hest, tiger, tiger, 2016). Aus dem Dänischen von Friederike Buchinger
Hamburg: Dressler 2017
160 Seiten, 12,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Nothing Is Still: New Album Reviews

Nächster Artikel

Maus, ausgesetzt

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Der Fluch der guten Tat

Jugendbuch | Isaac Blum: Ruhm und Verbrechen des Hoodie Rosen

Es gibt Grenzen für Beziehungen. Das muss ein jüdischer Junge schmerzhaft erleben, als er sich in ein christliches Mädchen verliebt. Auch im 21. Jahrhundert scheinen manche Welten inkompatibel. Von ANDREA WANNER

Horror pur – mit leichtem Lerneffekt

Jugendbuch | Claire Legrand: Das Haus der verschwundenen Kinder Perfekt zu sein, gilt als höchstes Lob. Wer Perfektion erreicht, die ist die Beste. Es gibt aber eine Kehrseite des Perfekten. Davon erzählt Claire Legrand in ihrem Debütroman ›Das Haus der verschwundenen Kinder‹. Was sie zeigt, ist Horror pur, und wer ihn erträgt, kann sogar ein bisschen daraus lernen. Von MAGALI HEISSLER

Wie es sich anfühlt, wenn man vor den Nazis gerettet werden muss

Jugendbuch | Peggy Parnass: Kindheit. Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete Man weiß es ja. Man hat davon gehört. Es gibt sogar ein paar Bücher darüber, dass jüdische Eltern ihre Kinder nach England oder Schweden schicken durften und ihnen dadurch das Leben retteten. Es kann einer insgeheim ganz wohlig werden bei dem Gedanken, geht es doch ums Gerettet werden. Gut, dass es Peggy Parnass gibt. Sie war eines dieser Kinder und erzählt, wie es sich wirklich anfühlt, wenn man von den Eltern derart gerettet werden muss. Von MAGALI HEISSLER

»Denn es ist alles eins«

Jugendbuch | Kelly Barnhill: Das Mädchen, das den Mond trank Eigentlich funktionieren doch die meisten Märchen nach dem gleichen Prinzip: Es gibt das Gute und das Böse. Das Böse erringt zunächst einen Teilsieg gegen das Gute, aber am Ende gewinnt das Gute. Dass das alles nicht so einfach ist, zeigt Kelly Barnhills märchenhafter Fantasyroman. Von ANDREA WANNER

Durch das Augenglas der Liebe

Jugendbuch | Beate Dölling: Der Sommer, in dem wir alle über Bord gingen Eine alte Fehde zwischen den Schülerinnen und Schülern zweier Schulen, die anscheinend kein Ende findet, Gefühlswirrwarr und viel schöne Natur, die allerdings auch Arbeit macht, sind die Ingredienzien von Beate Döllings Sommerabenteuergeschichte. Erst am Ende wird die leichte Kost pikanter und zeigt, wie wichtig der Blick der Liebe auf die Dinge ist. Von MAGALI HEISSLER