Wilder Ritt

Jugendbuch | Polly Horvath: Der Nachtgarten

Wer zu einem Buch von Polly Horvath greift, weiß schon, dass sie ein Leseerlebnis erwartet, das dem Ritt auf einem wilden Pferd ähnelt, Staubwolken, die die Sicht vernebeln, inklusive. Horvaths neue Geschichte vom Nachtgarten ist keine Ausnahme. Wer ihre Romane nicht kennt, kann sich auf etwas gefasst machen. Von MAGALI HEIẞLER

Horvath - Der NachtgartenUnsere Heldin heißt dieses Mal Franny (keine Abkürzung) und wie sie zwölf Jahre zuvor in den Haushalt von Sina (Abkürzung für Thomasina) und Old Tom kam, ist eine Geschichte, wie sie nur Horvath erzählen kann. In einem einzigen Kapitel.

Jedenfalls ist Franny ein glückliches Adoptivkind in einem verwinkelten viktorianischen Haus an der Küste unweit der Hauptstadt Kanadas. Was man noch wissen sollte, ist, dass die Handlung im Frühjahr 1945 spielt. In Europa tobt Krieg, in Kanada ist es friedlich. Natürlich sind an wichtigen Orten der Küste Soldaten stationiert und viele Männer arbeiten an Armeestandorten, aber für Franny, Sina und Old Tom hat sich nichts geändert. Sina ist Bildhauerin, Old Tom hegt und pflegt seine Gärten. Es gibt mindestens ein halbes Dutzend davon auf dem Anwesen, vom italienischen bis zum japanischen, einen Kräutergarten und einen, der umzäunt und verschlossen ist, den Nachtgarten.

Franny hat anderes im Kopf. Sie will Schriftstellerin werden. Zum Schreiben hat sie sich ein Kämmerchen hoch oben im Haus ausgesucht, die sogenannte Laterne. Wann immer sie Zeit hat neben der Schule und ihren Aufgaben in der kleinen Landwirtschaft, die Sina und Old Tom zum Lebensunterhalt betreiben, sitzt sie dort oben und erfindet ihre Geschichten. Ein erfülltes Leben, also, voll Ruhe und Raum für Kreativität.

Bis die Welt an die Tür hämmert, laut heulend.

Bunte Figurenbühne

Die Nachbarin, aus gutem Grund von allen »Crying Alice« genannt, ist nur die erste einer Anzahl exzentrischer Figuren, die Horvath mit gewohnter Verve aus dem Ärmel schüttelt. Man darf wieder einmal staunen, was sie sich hat einfallen lassen. Horvath hat ein Auge für Launen, Eigenheiten, Schrullen und all die kleinen Verrücktheiten, die den Charakter von Menschen auszeichnen. Ein wenig aufgeplustert und bunter gefärbt bbieten sie reichlich Material für die wilden Wendungen, die die Handlung nimmt.

Nicht nur die Erwachsenen verhalten sich eigen, auch die Kinder tun das. Es sind gleich drei, die Crying Alice im alten Haus von Sina und Old Tom ablädt, weil sie sich um ihren Mann auf einer entfernter liegenden Militärbasis kümmern muss. Mit den Geschwistern Winifred, Wilfred und Zebediah hält Unruhe Einzug im Haus (und in der Handlung) und Geheimnisse tauchen auf. Dass ausgerechnet der sechsjährige Zebediah tief darin verwickelt ist, ist Ausgangspunkt sowohl für eine wenig wahrscheinliche Abenteuergeschichte wie für sehr realistisch geschilderte und gut nachzufühlende Konflikte unter Geschwistern. Horvath lässt die Leserin all das durch Frannys Augen miterleben, einem Einzelkind und überzeugten Individualistin, die zugleich ganz gern eine gleichaltrige Freundin hätte. Sie wird sie finden, in Zebediahs älterer Schwester. Aber auch das ist nicht die endgültige Lösung, denn das Leben geht immer weiter.

Die Balance zwischen komplett abstrusen und oft hochwitzigen Ereignissen und der mitunter tatsächlich ebenfalls witzigen Wirklichkeit wird gut gehalten, wenn auch manche Motive, etwa die schrecklichen Kochkünste der als Köchin engagierten Gladys und ihre Liebe zu Bebop überstrapaziert werden. Junge Leserinnen wird das kaum stören.

Die bunte Figurenbühne präsentiert sich vor allem spaßig. Die Auftretenden werden als Einzelfiguren greifbar, obwohl sie de facto recht knapp skizziert sind, formieren sich aber auch zu überraschenden Grüppchen mit spannenden Entwicklungen in ihrer Interaktion, die wiederum raffiniert auf die Handlung zurückwirkt. Dass die Leserinnen das eine und andere Mal an der Nase herumgeführt werden, versteht sich. Autorinnen wollen auch ihren Spaß haben.

Franny

Erzählt wird die Geschichte von Franny, die Horvath mit trockenem Humor ausstattet, der auch mal ins Herbe oder Freche rutschen kann. Teenager eben. Zu junge oder auch unerfahrenere Leserinnen könnten daher Probleme beim Verständnis haben. Frannys Altklugheit kann man ganz gut darauf zurückführen, dass sie viel Zeit mit dem etwas eigenbrötlerischen Paar Sina/Old Tom verbringt. Bei aller Liebe gehen die beiden mit ihr eher wie mit einer Erwachsenen um.

Das Mädchen versteckt sich eine Weile hinter ihrem Geschick im Umgang mit Worten, wird dann aber deutlicher, wenn es darum geht, ihre eigentlichen Sehnsüchte auszudrücken. An solchen Stellen ist sie wirklich jung, da kommen Eifersucht, Selbstüberschätzung, Unsicherheiten ans Tageslicht. Mit Neugier auf die Welt, viel Hilfsbereitschaft und einem großen Maß an schierer Zuneigung für andere ausgestattet, ist sie eine rundum liebenswerte Figur, auch wenn sie aus ihrer oft abweichenden Meinung über den Stand der Dinge keinen Hehl macht.

Man wünschte sich, dass Horvath sich mehr Zeit genommen hätte, um Frannys Entwicklung zu beschreiben. Vieles gerät ein bisschen grob, darunter auch die wichtige Frage nach dem Familienzusammenhalt, weil das Abenteuer weitergehen muss.

Dieses Abenteuer ist rätselhaft und spannungsreich gestaltet, mit einer Prise Unheimlichem. Es ist jedoch kein vollendeter Genuss. Der Nachtgarten und sein gefährliches Geheimnis werden recht spät in die Geschichte eingeführt. Das geschieht überdies zu einem Zeitpunkt, in dem die Handlung im Realistischen angekommen ist, in einer Geschichte von einem möglichen Spionage- oder Sabotagefall mitten im Krieg. Das plötzliche Abschwenken ins Fantastische, eigentlich eine Spezialität von Horvath, irritiert. Ebenso irritiert der wunderbare kunstphilosophische Schlusspunkt, an dem Franny und Sina als Künstlerinnen ihre Kreativität mit der Realität zusammenfügen. Das ist unvermutet sehr hochgegriffen.

Versöhnlich stimmt, dass Horvath, obwohl es um das die altbekannte Problematik vom Wünschen geht, das Thema in seiner ganzen Härte abhandelt. Wer die Verlockung ihres Nachtgartens durchdacht hat, wird mit dem Wünschen in Zukunft mehr als höchste Vorsicht walten lassen.

Insgesamt kein ganz gelungener Horvath (für Fans), aber trotzdem eine wild-verrückte und recht gescheite Geschichte, die großen Spaß macht. Franny kennenzulernen, lohnt sich allemal.

| MAGALI HEIẞLER

Titelangaben
Polly Horvath: Der Nachtgarten
(2017 The Night Garden, übers. von Bernadette Ott)
Hamburg: Aladin Verlag 2018
334 Seiten. 14,95 Euro
Jugendbuch ab 12 Jahren
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