Der Tag, an dem die Welt auf den Kopf gestellt wurde

Jugendbuch | Andy Mulligan: Trash

Trash ist das englische Wort für Müll. Gigantische Abfallberge türmen sich am Rande der Stadt Manila, wo tausende von Menschen ihr Dasein fristen, darunter unendlich viele Kinder. Sie suchen nach recycelbarem Müll, nach Dosen, Papier, Plastik, nach allem, was Geld einbringt. Andy Mulligan hat aus ihrem Schicksal eine Geschichte gemacht. ANDREA WANNER hat sie gelesen.

TrashEs ist ein unvorstellbares Leben auf diesen Müllhalden. Atemwegsprobleme durch bei der Müllverbrennung entstehenden Dämpfe und Gase, Blutvergiftungen und Abszesse, durch offene Wunden verursacht, Fehlernährung und das Risiko, unter einem der großen Müllberge begraben zu werden, wenn er ins Rutschen kommt. So sieht die Hölle aus. Raphael Fernández, ein 14jähriger Mülljunge, hat sein ganzes Leben dort zugebracht und weiß anschaulich davon zu berichten, was seine Suche nach Verwertbarem meistens zu Tage fördert: stuppa, Scheiße. Und er meint das nicht im übertragenen Sinne. Was aber wäre, wenn eines Tages inmitten all dieser Scheußlichkeiten ein Schatz entdeckt werden würde? Es geschieht und das Abenteuer beginnt.

Ein ungeheurer Fund

Es ist reiner Zufall, es sieht aus wie pures Glück und es verheißt für einen kurzen Moment eine bessere Zukunft: das, was Rafael eines Tages im Müll findet. Eine Tasche voller Geld und einen Schlüssel. Im Rückblick bezeichnet der Junge diesen Tag als seinen »Unglücks-Glückstag«, jenen Tag, »an dem die Welt auf den Kopf gestellt wurde«. Rafael ist mit seinem Freund Gardo unterwegs an einem der Förderbänder, die den neuen Müll von oben herabregnen lassen. Und da ist sie plötzlich, die Tasche. Und kurz darauf ist auch schon die Polizei da und sucht nach genau dieser Tasche. Nein, Rafael gesteht nicht, dass er sie gefunden hat. Vielmehr sucht er nach einem idealen Versteck, das er bei einem weiteren Jungen, Ratte findet. Und das Schicksal nimmt seinen Lauf.

Es ist viel mehr als nur Geld und eine Tasche, hinter dem die Polizei her ist. Es ist eine ungeheure Geschichte, die für alle, die darin verstrickt sind, lebensgefährlich wird. Noch ahnen das die Jungs nicht. Aber schon bald wird nichts mehr sein, wie es war und die Welt, wie Rafael es formulierte, wird auf dem Kopf stehen.

Ein Märchen?

Wie kann man so etwas erzählen, ohne kitschig zu werden? Wie beschreibt man diesen entsetzlichen Dreck, diese Armut und Perspektivenlosigkeit eines Dritte-Welt-Landes, ohne nur zu deprimieren? Muss so eine Story nicht zwangsläufig tragisch enden? Andy Mulligan, in London aufgewachsener Theaterregisseur und Lehrer, der in Indien, Brasilien, Vietnam und auf den Philippinen arbeitete, gelingt ein Balanceakt. Realitätsnah und packend schildert er Zustände, die man sich nicht vorzustellen mag, Angst, Verzweiflung, puren Horror. Dann wieder setzt er den Überlebensinstinkt der drei Jungen, ihren Mut und Ideenreichtum in Szene und hilft mit ein bisschen glücklichem Zufall nach.

Fünf Teile umfasst das Buch, in jedem Kapitel kommt eine andere Figur zu Wort und berichtet von den Geschehnissen aus ihrer Perspektive. Das sind natürlich Rafael, Gardo und Ratte, aber auch Pater Juilliard, Leiter der Missionsschule Pascal Aguila an der Müllhalde, Grace, eine Hausangestellte bei Senator Zapanta, dem Vizepräsidenten des Landes, Olivia Weston, 21jährige Uniabsolventin aus England, die in der Missionsschule die Rolle einer Heimmutter auf Zeit übernommen hat. Ihre Berichte fügen sich wie Puzzleteile zu einem großen Ganzen zusammen.

Trash ist Detektivroman und modernes Märchen, Abenteuer- und Freundschaftsgeschichte in einem. Politische Zusammenhänge, Willkür und Unterdrückung werden angeprangert. Und wenn man alles verloren glaubt, gelingt den Opfern des Systems ein Sieg. Auch wenn das keine Lösung für die menschenunwürdigen Zustände ist, die in vielen Teilen der Welt herrschen, ist Trash eine Lektüre, die nachdenklich macht. Und auch ein bisschen glücklich.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Andy Mulligan: Trash
(Trash, 2010) Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn
Reinbek: Rowohlt 2011
256 Seiten, 8,99 EUR
Jugendbuch ab 12 Jahren

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Quo vadis Space Shooter?

Nächster Artikel

Fantasiereiches Solo

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Mit aller Konsequenz

Jugendbuch | Sabine Ludwig: Am Ende der Treppe, hinter der Tür Wer unglücklich ist, sieht oft nur noch sich. Das gilt besonders für Teenager. Gefühle empfinden sie in voller Stärke. Das trübt den Blick auf die eigentliche Lage der Dinge, das Handeln folgt überstürzt und undurchdacht. Es fehlt noch die Lebenserfahrung, die hilft, auf Distanz zu gehen und über die Folgen des Tuns nachzudenken. Die Folgen müssen nämlich auch Teenager tragen, davor gibt es keinen Schutz. Sabine Ludwig lässt in ihrem Jugendthriller Am Ende der Treppe, hinter der Tür ihre sechzehnjährige Heldin eine solche Situation mit aller Konsequenz durchleben. Von

Kein Plan, nirgends

Jugendbuch | Badey/Kühn: Strom auf der Tapete Manchmal will man sich einfach nicht mehr damit abfinden, dass wichtige Fragen nicht beantwortet werden. Losziehen und die Antwort selbst finden, ist das Nächstliegende. Wenn aber kein Plan für die Suche vorliegt, sind die Folgen unabsehbar. Ron Robert hat’s erlebt. Von MAGALI HEISSLER

Was wirklich zählt…

Jugendbuch | Julie Murphy: Dumplin’ Dick aber selbstbewusst? Übergewichtig aber glücklich? Über ein spannendes Thema für ein Jugendbuch freute sich ANDREA WANNER und war neugierig auf den ›New York Times‹-Bestseller.

Jede Menge Glücksportionen

Jugendbuch | Elisabeth Steinkellner: Papierklavier

Was wünscht man sich mit 16? Eine Mutter, die sagt: »Tut mir leid, dass ich manchmal vergesse, wie hart es ist, sechzehn zu sein?« Einen Freund? Mehr Geld? Maia bringt ihre Träume, Wünsche und Gedanken in ihrem Tagebuch zu Papier, in Worten und Zeichnungen. ANDREA WANNER hat sich über diesen klugen Blick auf die Welt gefreut.

Erschreckend einfach – einfach erschreckend

Jugendbuch | Antonia Michaelis: Niemand liebt November Unter den deutschen Jugenbuchautorinnen nimmt sich Antonia Michaelis seit einigen Jahren schon am eingehendsten und kontinuierlich derer an, die das Fehlverhalten Erwachsener in voller Wucht trifft: der Kinder und der verstörten Jugendlichen, die aus diesen Kindern werden können. Auch in ihrem neuesten Jugendbuch ›Niemand liebt November‹ erzählt sie von etwas, das erschreckend einfach geschah und sich zu einer einfach schrecklichen Geschichte für ein junges Mädchen entwickelt hat. Von MAGALI HEISSLER