Jugendbuch | Stephanie de Velasco: Tigermilch
Man braucht: einen leeren »Müllermilch«-Becher (die Müllermilch verschwindet im Klo), in den ein bisschen Schulmilch, viel Maracujasaft und ordentlich Mariacron kommt. Umgerührt wird mit den Fingern und fertig ist die Tigermilch und mit ihr das ultimative Sommergetränk für Nini und Jameela. Von ANDREA WANNER
Der Sommer in Berlin ist heiß und die Gegend, in der die beiden 14jährigen aufwachsen, gehört nicht zu den besten. Migrantenfamilien, Arbeitslose, sozial Schwache leben hier. Die beiden Mädchen stecken voller Lebenshunger und Tatendrang, fühlen sich – fast – erwachsen, vor allem mit der Tigermilch im Bauch und stürzen sich in das Leben. Dazu gehören Partys, auf denen getrunken und gekifft wird, kleinere Ladendiebstähle, Abhängen mit der Clique, zu der auch Jugendliche aus behüteteren Familien gehören, und das große Projekt »Entjungferung«, für das die beiden schon mal mit Freiern auf der Kurfürsten üben. Zwei Freundinnen, die sich sicher sind, gemeinsam alles in den Griff zu bekommen.
Summerfeeling
Stefanie de Velasco, Jahrgang 1978, findet in ihrem Debütroman die richtigen Worte für diesen Sommer, in dem sich für Nini und Jameelah alles ändern wird. Sie lässt Nini, die Naivere der beiden, erzählen – vom Alltag in der Siedlung, von der Schule, von Jameelah, die mit ihrer Mutteraus dem Irak nach Deutschland geflohen ist, nachdem sie dort Tod und Verwüstung erlebt hatten. Das Leben lockt als ein großes Abenteuer, wo man mit Ringelsocken an den Beinen Männer anmacht, sich mitnehmen lässt und dafür Geld bekommt oder im Schwimmbad abhängt und sich am Kiosk Süßigkeiten gönnt. Eines ist so wichtig oder belanglos wie das andere, es sind die Erwachsenen, die Dingen unterschiedliche Bedeutung zumessen. Für die Mädchen scheint alles machbar, sie wollen alles ausprobieren, niemand hält sie auf.
Bei aller Leichtigkeit ist von Anfang an zu spüren, dass es so nicht bleiben wird. Wie schrecklich das Leben sein kann, erfahren sie eines Nachts, wo sie sich hinausschleichen, um einen Liebeszauber auszuprobieren. Aus dem harmlosen Hokuspokus mit Rosenblättern wird ein Albtraum: Die Mädchen werden Zeuginnen eines Ehrenmords. Unvorstellbar, grausam und unumkehrbar. Was sollen sie mit ihrem Wissen tun, nachdem der Falsche dafür ins Gefängnis muss? Jameelah will, dass sie niemandem etwas verraten – und hat dafür ihre Gründe. Und Nini? Sie behält das schreckliche Geheimnis am Ende doch nicht für sich – die Folgen kann sie nicht erahnen.
Das Ende der Kindheit
Eine Freundschaft, die es seit der ersten Klasse gibt, wird am Ende dieses Sommers anders sein. Vertrautheit, alberne Wortspiele, das Gefühl, dass einen jemand ganz versteht und immer für einen da sein wird. Was Freundschaft zwischen Mädchen in diesem Alter ausmacht, wird auf unnachahmliche Weise voller Witz und Poesie geschildert. Parallel dazu gibt es nicht enden wollende Probleme und Konflikte: alleinerziehende, überforderte Mütter, Alkoholismus, Abschiebung, ungewollte Schwangerschaft, Gewalt – Tigermilch ist da auf Dauer keine Lösung. Aber wenn schon die Erwachsenen das Leben nicht in den Griff bekommen, was für eine Chance damit fertig zu werden hat man dann mit 14? Eigentlich keine, aber irgendwie machen Nini und Jameelah das Beste aus diesem besonderen Sommer, der das endgültige Ende ihrer Kindheit markiert.
Und als Leserin hat man Teil an diesem Sommer. Weit davon entfernt, die beiden Mädchen in ihrer fremden, den Leserinnen sicherlich unvertrauten Welt, distanziert zu beobachten oder ihr Tun zu bewerten, wird man mit in die Geschichte gesogen, findet sich mittendrin wieder, gerade so, als hätte man selbst einen Schluck Tigermilch getrunken.
| ANDREA WANNER
Titelangaben
Stephanie de Velasco: Tigermilch
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2013
288 Seiten. 16,99 Euro
Ab 14 Jahren
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