TITEL-Textfeld | Martin Jürgens: Vier Gedichte
Beauty-Case
DEUTSCHLÄNDERIN I
                               Ka-heienz, ich
                                bin da drüben, ja?
Und lacht. Es zieht
 Im airport Malaga
 Ein beautycase in
 Richtung duty–free,
 Zwei goldne Riemchen
 Um die Knöchel.
O Deutschlands gut
 Gebräunte Mutter,
 Vielfaltige Dreieinigkeit von
 Hüftspeck, Patschhand, Hochfrisur.
 Der Stuten folgsamste zeigt
 Für Sekunden noch ihr
 Hinterteil in weißem Stretch, un-
 Schlüssig zwischen Ricci und Lancôme
 Und ist nicht mehr zu sehn,
 Minutenlang.
Doch dann
 Ist sie zurück,
 Bei ihm, Karl-Heinz,
 Zwei Tüten in der Hand.
 Sie warten vor gate 1.
Promovendin
DEUTSCHLÄNDERIN II
                               Im Lichte des Satzes Adornos vom
                                richtigen Leben im falschen scheint
                                mir Ihr Hinweis auf die strikte 
                                Selbstreflexivität erzählter
                                Geschichte wenig hilfreich.
Soweit ihr kühnster Satz
 Seit zwei Semestern.
 Viel vor hat sie
 Und wenig hinter sich.
Ansonsten jede zweite Woche,
 »Alle sind nett zu mir««,
 Ein Brief nach Haus.
Eineinhalb Zimmer, Dusche,
 Fahrrad vor der Tür,
 Kein Mann seit dem Magister.
Die Augen immer
 Eine Spur zu weit:
 »Was wird er davon halten?«
 Ihr Thema aber,
 Macht sie, sagt sie,
 Wirklich an: »Aporien
 Des modernen Ich bin«
Sehr weit ist sie noch nicht,
 Doch die Bedingung
 Ihrer Möglichkeit
 Geht ihr nicht
 Aus dem Sinn.
Familienfoto im Dezember
DEUTSCHLÄNDER IV
Nein, Kevin, man muß nicht alles haben!
Fußgängerzone Solingen,
 Ein Hüttendorf mit Tannengrün,
 Lebkuchendauerhaft: vier
 Wochen lang und alle
 Jahre wieder. Au!
Das traute hocheilige Paar tritt auf:
 Das Apfelmännchen, eine Zwetschgenfrau,
 Klingglöckchenkindl an der Hand,
 Rotznase unter Bommelmütz.
 Bienenwachskerzensüßer nie
 Als im Advent,
 Wenn Schwenkbraten an
 Engelshaar und Holzspielzeug
 Das Erzgebirge puderüberzuckert
 Heraufbeschwört. Es brennt
 Ein Räucherstäbchen da und da
 Und ihn der Enzian im Hals,
 Und sie brennt Sehnsucht, ach
 »Weißt Du noch früher
 Als noch Schnee?«
Doch Kevin kriegt heut
 Nichts mehr. Das tut weh!
 Man muß nicht alles haben!
 Ihm bleibt der Glühweinduft
 Aus allen Poren
 Noch im Bett
 Und in den Ohren
 Jingle bells, bis es
 Ihn überläuft
 Den holden Knaben.
Thekenheld
DEUTSCHLÄNDER V
O schwerer Held im Nebel vieler Theken,
 Voll seiner Meinung und
 Sein bester Freund,
 Einsam wie nie zuvor,
 Allabendlich:
 »Genau, kein Thema, sowieso,
 Mein Reden schon seit,
 Sach ich doch!
 Und selbst?«
»Nur wo man singt, ist
 Frieden«, sagt er so gegen elf
 Und läßt sich gehen
 Bis zum Gehtnichtmehr
 Aus voller Brust.
 Sein Atem reicht von
 »So ein Tag« bis
 »Froh zu sein«, vom
 Polenmädchen, das »Ich küsse nicht«
 Bis »Schnee- Schnee- Schnee- Schnee-
 Walzer tanzen wir«,
 Er mit sich
 Im Nebel vieler Theken,
 Sein Selbst und alles Bier mit ihm.
Dann ist er müd.
 »Die Besten sind doch hin, so
 Sieht das aus! Ich sach« – hick
 Sagt das Bier – »nur eins! Was
 Sachs du, Sack?« sagt er:
 »Sie jedenfalls, sie
 Kann mich mal! Esis
 Doch so, daß wir,
 Un selbs?
 Sachwasdusack!
 Unselbs?«
Martin Jürgens, geb. 1944, lebt in Berlin. Er lehrte an der UdK Berlin und führte Regie an Theatern in Münster, Köln und Berlin. Die Gedichte sind mit freundlicher Genehmigung der Edition Hammer + Veilchen der Sammlung ›Herz an Zunge‹ entnommen, die dieser Tage erscheint.

 
  
  
  
  
 
 
  
 