Menschengeschichten

Jugendbuch | Monika Maslowska: Winterrot. Sechzig Sekundengeschichten für eine Minute

Natürlich geht es in Geschichten, die Menschen erzählen, um nichts anderes als Menschen. Seltsam ist eher, dass wir dessen nicht überdrüssig werden. Stößt man, zugegebenermaßen zufällig, auf ein Büchlein wie das von Monika Maslowska, das Geschichten, Poesie und Bild nahtlos miteinander verschmelzen lässt, wird das »natürlich« wie das »seltsam« geradewegs zum Wunder. Von MAGALI HEIẞLER

Maslowska - WinterrotMaggi heißen die Personen, die in diesem Buch auftreten, Gerda, Milla, Eddi und Hemma. Manche haben keine Namen, aber sie sind so präsent wie du und ich. Vielleicht sind sie du oder ich? Sechzig Personen zeigen sich, sechzig lernt man kennen mitsamt ihrer Geschichte.

Die jeweilige Geschichte wird in einem kurzen Satz erzählt, selten in zwei. Einmal genügt ein einziges Wort, um alles zu sagen. Der Ausdruck »Sekundengeschichte« im Untertitel wird keineswegs müßig verwendet. Und doch ist er falsch. Eine Sekunde ist nur der Moment des ersten Eindrucks. »Eines Tages erwachte die Magie in Maggi«, heißt es, etwa. An anderer Stelle erfährt man, dass die Erde auf einmal Ella gehörte. Oder, dass Michi nicht erwachsen werden wollte.

Die Worte sind jedoch nur der Anfang, denn zu ihnen gehört immer ein Bild. Möglicherweise ist es umgekehrt. Am Anfang war das Bild, die Worte folgten. Das Beziehungsgeflecht ist nicht entwirrbar.

Fotoalbum intimster Momente

Maslowska präsentiert Momentaufnahmen aus dem Leben. Schnappschüsse möchte man meinen, bevor man wahrnimmt, dass Worte und Illustration umgehend anfangen, sich zu einer ausführlichen Geschichte zu verweben. Erzählen muss man sie sich selbst. Die Erzählung beginnt man am besten damit, dass man aus den raffiniert einfachen, zuweilen geradezu trivialen Behauptungen eine Frage macht. Schon schnurrt das Gedankenrädchen. Wie kommt die Erde dazu, Ella zu gehören? Was geschieht mit Maggi, wenn die Poesie in ihm erwacht?

Viele der Figuren gleichen Elfen und Kobolden, Zwergen, Feen, ihre Welt ist eine zauberische. Sie scheinen Märchenwesen zu sein, Naturgeister, mit Mächten ausgestattet, über die Menschen nicht verfügen. Aber die Geschichten sind keine Märchen. Hier werden Augenblicke eingefangen, in denen Träume, die Menschen träumen, Realität sind. Das sind die allerintimsten Augenblicke des Menschseins. Näher kann man Menschen nicht kommen. Eine Sekunde lang.

Die Glücksmomente sind vorherrschend, sie zeigen sich in den kleinen, quicklebendigen Gesichtern. Dass die Figuren oft mit geschlossenen Augen dargestellt werden, ihre Miene aber trotzdem voll Leben ist, ist eins der zahlreichen Kunststücke, die Maslowska souverän vorführt. Es gibt aber auch dunkle Momente, traurige, angstvolle. Die Personen zeigen, wie sie damit umgehen, und man kann sich darauf verlassen, dass sie glorreiche Lösungen finden. Singen gegen die Angst, Gegebenheiten akzeptieren, sich entdecken, einfach die und der sein, die man sein will. Das ist abenteuerlich, aufregend und zugleich wunderschön. Scheitern sie, blieben sie trotzdem Mensch und man ertappt sich dabei, dass man ihnen eine neue Chance wünscht. Die Geschichten stimmen eine freundlich. Künstliche Harmoniesucht und süßliches Versöhnlichkeitsgehabe fehlen hier. »Menschlich« bedeutet in diesem Geschichten auch »ehrlich«.

Tusche und Papier

Sparsam wie die Worte sind die Materialien, Tusche und Papier. Es genügt vollauf, um die Magie sichtbar zu machen, die tief in Menschen zu Hause ist und so verborgen, dass sich viele dessen gar nicht bewusst sind. Diese Magie besteht ebenso im Annehmen von Veränderungen, etwa wenn eine ihr Herz öffnet, wobei Wunderliches geschieht, eine andere aufhört, etwas zu wollen und eine dritte ihre Grenze erkennen muss, aber trotzdem weiterhin liebt, was sie liebt. Andere verpassen ihre Chance. Das ist traurig, aber zugleich ein Glück für die Leserin. Sie wird, solcherart in sachter Weisheit gemahnt, es besser machen als Freddy im Schilf und aufmerksamer sein als Julia.

Maslowskas Geschichten entspringen der Realität, sie beobachtet Menschen und nimmt ihre Probleme wahr. Die Selbstzufriedenheit eines Paars, dem im Grund Lebensfreude fehlt, die Einsamkeit in der Zweisamkeit, verpasste Gelegenheiten. Sie vermittelt aber auch genau das Gefühl des letzten Einkuschelns, bevor man unerbittlich doch aufstehen muss, die Bekenntnis zum unkonventionell Sein und des sich Verzaubern lassens von der Liebe.

Mittels Strichstärke, Schattierungen und Schraffuren samt besonderen Perspektiven bringt Maslowska beeindruckende Komplexität in die schlichten schwarz-weiß-Illustrationen. Manche enthalten kleine Rätsel, man muss genau hinsehen. Nicht immer steht das, was man zuerst sieht, auch im Mittelpunkt. Ebenso lohnt es sich, hin und wieder die einfach gehaltenen Worte zum Bild ein weiteres Mal zu lesen. Dann erschließen sich Welten. Das »Winterrot« des Titels übrigens auch. Was für eine gelungene Beschreibung eines in frostigen Zeiten so normalen Geschehnisses und zugleich eine so liebevolle Poetisierung des Winters.

Sicher nicht als Jugendbuch gedacht, sind die Miniaturen von Bild-Text-Einheiten dennoch in Teenagerhänden gut aufgehoben. Ist das nicht das Alter, in dem man liebsten im Geheimen vom Leben träumt und so vieles möglich scheint?

Gleichmaßen magisch wie realitätsverhaftet, poetisch und prosaisch, gescheit und märchenhaft ist dieses selten geglückte kleine Buch und man kann man Schlimmeres tun, als das Lesejahr 2019 damit zu beginnen. Und kaum etwas Besseres.

| MAGALI HEIẞLER

Titelangaben
Monika Maslowska: Winterrot
Sechzig Sekundengeschichten für eine Minute
128 S. 16 Euro
Innsbruck: Limbus Verlag 2018
Jugendbuch ab 15 Jahren
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| Webseite der Autorin

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