Coming of Age, State of the Art

Comic | Bastien Vivès: Eine Schwester

Mit der Comic gewordenen Sommerromanze ›Eine Schwester‹ bezeugt der französische Comic-Nachwuchsstar Bastien Vivès erneut seine junge Meisterschaft als Zeichner und Erzähler. Von CHRISTIAN NEUBERT

Eine Schwester - 9783956401442Antoine ist 13 Jahre alt, schüchtern, leise, in sich gekehrt. Hélène ist 16, trinkt, raucht, flirtet. Sie könnten nicht weiter voneinander entfernt sein, ihre Leben scheinen unvereinbar.

Unter Teenagern sind drei Jahre Abstand oft eine unüberbrückbare Ewigkeit. Dennoch führt sie das Schicksal zusammen, personifiziert durch das wohl Schicksalhafteste überhaupt, das Jugendlichen widerfahren kann: Eltern. Weil Antoine seine Sommerferien im Kreise der Familie in der Bretagne verbringt, welche kurzfristig Besuch von einer Freundin der Mutter bekommen, die ihre 16-jährige Tochter – Hélène – mitbringt.

Boy meets Girl: Was der französische Comic-Durchstarter Bastien Vivès in ›Eine Schwester‹ erzählt, ist wohlbekannt – und bezeugt erneut, nach ›Der Geschmack von Chlor‹, ›In meinem Augen‹ und ›Polina‹, seine junge Meisterschaft als Zeichner und Erzähler.

›Eine Schwester‹ ist eine Teenie-Romanze und als solche eine unter vielen. Dass sie unter ihresgleichen definitiv heraussticht, liegt zum einen an dem kleinen dramatischen Twist, den Vivès unterbringt, an seinen glaubwürdigen Protagonisten, die keine archetypischen Schubladen ausfüllen sollen, sondern stattdessen einfach nur Teenager sind – und an seiner besonderen Gabe, aus vermeintlichen Nebensächlichkeiten bzw. alltäglichen Kleinigkeiten ganze Geschichten zu konstruieren, die unmittelbar berühren, weil sie fest im Leben verankert sind.

Hautnah draufhalten

›Eine Schwester‹ ist ein Kammerspiel vor weiter Strand-Kulisse – und dabei verflucht nah an seinen Figuren. Antoine und Hélène führen schüchterne Gespräche, essen Eis auf der Bettkante, tauschen scheue Blicke aus, berühren sich wie zufällig, küssen sich irgendwann – und so geht´s eben weiter. Und zur Sache. Keine Ahnung, wie die Jugend heute so spricht, aber in der Bravo wurde seinerzeit von »Ständer«, »Blasen« und »Heavy Petting« gesprochen.

Ob es einen (heute) schockieren soll, dass der Comic dranbleibt, wenn er Teenager, darunter einen Dreizehnjährigen, bei ersten sexuellen Erfahrungen zeigt? Keine Ahnung. Exploitative Schauwerte bedienen Vivès schwungvoll inszenierte Silhouetten sicher nicht, doch für manche ist ›Eine Schwester‹ bestimmt ein großer Aufreger – zumal der Titel in diesem Zusammenhang in inzestuöse Richtungen weist. Dabei weist er nur auf die Idee der sprichwörtlichen großen Schwester, die für Antoine Initiation und Inspiration ist.

 

Mit Fingerspitzengefühl

Große Fragen hin oder her – oder her damit: Aufgrund der zurückgenommenen gestalterischen und farblichen Umsetzung entfaltet sich diese Geschichte eines Sommers sehr leichtfüßig. Vivès´ maximal reduzierten Zeichnungen wirken auf den ersten Blick wie Fingerübungen, erschaffen aber eindrucksvolle Bilderwelten, denen das gesamte Drama und das vage Versprechen sich eventuell anbahnender Liebesbeziehungen innewohnen.

Eine Schwester - Leseprobe
Eine Schwester – Leseprobe
(Abb: Reprodukt)

Kaum erkennbare Gesichter bergen hier ganze Gefühlswelten, drei oder vier schwungvolle Striche fangen die körperliche Dynamik kompletter Bewegungsabläufe ein: Was Vivès in seinem genau beobachteten, mit Sorgfalt erzähltem Band anstellt, ist große Klasse – und ›Eine Schwester‹ ein klasse Comic.

Titelangaben
Bastien Vivès: Eine Schwester
Aus dem Französischen von Heike Drescher
Berlin: Reprodukt 2018
216 Seiten, 24 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Bastien Vivès: Das Gemetzel. In TITEL kulturmagazin
| Blog des Künstlers

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Auf nach Hellas!

Nächster Artikel

Zeitreise in die 70er

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Untot am Hindukusch

Comic | Ennis/Wolfer: Stitched Band 1: Die lebenden Toten Garth Ennis hat es wieder getan. Diesmal frönt er seiner dritten Leidenschaft nach Rachephantasien und Religionskritik: Soldatengeschichten. In Stitched lässt er eine Truppe ISAF-Soldaten in Afghanistan auf grausige Untote treffen. Was sich nach politisch unkorrektem, spaßigem Splatter anhört, ist zwar auch Splatter, nimmt sich dabei aber überraschend ernst und scheut jede Satire. BORIS KUNZ über einen Comic, über den man sich weder richtig freuen noch richtig aufregen kann.

Die unheimlichen Fälle des Scotland Yard

Comic | Dobbs (Text), Stéphane Perger (Zeichnungen): Sctoland Yard Ein Inspektor des Scotland Yard muss sich ungewöhnliche Hilfe holen, um einem irren Frauenmörder und einem menschlichen Vampir auf die Spur zu kommen. ›Scotland Yard‹ ist ein klassischer historischer Thriller, der den Fans des Genres alles geben will, was diese erwarten. In den Augen von BORIS KUNZ hat das Vor- und Nachteile.

Der NÖB fragt …

Comic | Interview mit Rainer Engel

Rainer Engel kennt man vor allem für seine Zeichnungen, die er regelmäßig für Levin Kurios Heftschmiede Weissblech Comics abliefert. Wenn er nicht gerade die Titelseiten für die Serie ›Captain Berlin‹ illustriert oder die Reihe ›Hammerharte Horrorschocker‹ mit neuen Geschichten bereichert, fertigt er auch Plastiken an. Oder er schmeißt den Stand von Weissblech Comics beim Comicfestival München 2023, wo CHRISTIAN NEUBERT ihn für dieses Interview gewinnen konnte.

Ein vertracktes Juwel

Comic | Neil Gaiman (Text), James J. Williams III (Zeichnungen): Sandman Ouvertüre Wenn eine erfolgreiche Geschichte zu Ende erzählt ist, wenden sich diejenigen, die an dieser Geschichte noch mehr zu verdienen hoffen, gerne Nebenfiguren (Spin-Offs) oder der Entstehungsgeschichte der Helden zu (Prequels). Das kann gut gehen, kann aber auch zu einer abgeschmackten Banalisierung eines Mythos werden, wie die ›Before Watchmen‹-Reihe eindrucksvoll bewiesen hat. Hat man also Grund zur Sorge, wenn Neil Gaiman jetzt in ›Sandman – Ouvertüre‹ die Vorgeschichte seiner legendären Comicreihe verfasst? BORIS KUNZ kann an dieser Stelle beruhigen.

Blockbuster in Verkleidung

Comic | Jeff Lemire (Text), Dustin Nguyen (Zeichnungen): Descender – Buch 1: Sterne aus Blech Jeff Lemire, der schon mit seiner apokalyptischen Fabel ›Sweet Tooth‹ ein ebenso meisterhaftes wie eigentümliches Genrewerk geschaffen hat, erweist sich auch in seiner Sci-Fi Reihe ›Descender‹ als guter Erzähler. Er versteht es, auch auf vertrautem Terrain originelle Wege zu gehen. BORIS KUNZ ist unter seiner Leitung in den Weltraum aufgebrochen.