Neu und alt

Textfeld | Wolf Senff: Neu und alt

Genug!, rief Thimbleman zum Strand hin, wo der Ausguck scheinbar ohne Ende einen Salto nach dem anderen schlug.

Pure Lebensfreude, entgegnete der Ausguck, während er gemächlich an seinen Platz zurückkehrte.

Ein großer, schlanker Kerl, ein heller Kopf. Respekt. Vierzehn war er – ein halbes Kind und schon ein kluges Bürschchen. Thimbleman sah ihn aufmerksam zuhören, wenn Gramner redete. Hatte er nicht erst kürzlich sogar über Klaviermusik mitreden können?

Stimme, laut störend: Ein weltweites Netzwerk von Radioteleskopen hat erstmals den Schatten eines Schwarzen Lochs fotografiert.Zu den acht eingesetzten Anlagen gehören unter anderem das ›Alma‹-Teleskop in Chile mit sechsundsechzig riesigen Radioschüsseln, Teleskope der Europäischen Südsternwarte, ebenfalls in Chile, das IRAM Dreißig-Meter Teleskop bei Granada in der spanischen Sierra Nevada sowie ein Teleskop am Südpol.

Das reinste Paradies, sagte der Ausguck. Wie lange bleibt uns?

Ich zähle nicht, sagte Thimbleman. Wir werden beizeiten erfahren, wann ausreichend Männer genesen sind, um in dieser Lagune den Teufelsfisch zur Strecke zu bringen.

Nein, ich möchte nicht in jenen Zeiten leben, von denen Gramner erzählt. Du?

Weiß ich’s? Ein Zuckerschlecken wäre das wohl nicht.

Im Gegenteil, Thimbleman, im Gegenteil. Die einen haben den Planeten bis auf wenige Reste geplündert, in Glanz, Prunk und Luxus gelebt, und nun stehen sie da, als Zaungäste des eigenen Untergangs, und sehen verblüfft mit an, wie sich das Leben davonstiehlt. Und sie behalten das für sich, verstehst du? Zu feige für ein ehrliches Wort zu all denen, die noch immer nichts ahnen.

Ein Zuckerschlecken wird das nicht, ich hab’s gesagt.

Wie, sagt Gramner, nennen sich die Zeiten? Moderne? Was soll daran modern sein? Die Muttersprache wird genutzt, um die Menschen zu täuschen.

Das, sagt Gramner, sei die Wirklichkeit des neuen Jahrtausends, und alles kluge Reden von ruhmreicher Vergangenheit, von Evolution, von Krone der Schöpfung – die allerliebsten Konstrukte, doch nichts davon wahr.

Die Ärzte jener Moderne, sagt Gramner, würden den Sterbenden funktionsfähige Organe entnehmen, um sie denen einzupflanzen, die noch gesund seien, aber an einem erkrankten Organ litten. Herzen von Schweinen, sagt er, würden geprüft, ob sie verwendbar seien. Sollen wir ihm das abnehmen?

Sagt er, Ausguck, stimmt, jedoch das ist extrem, sie reden, sagt er, von Xenotransplantation, und vielleicht müssen wir ihm wirklich nicht alles abnehmen. Zwar ändern sich die Zeiten, Ausguck, doch für mich ist so etwas unvorstellbar.

Der Ausguck lachte lauthals, rief ein paar spöttische Worte, stand auf und machte einen Handstandüberschlag.

Stimme, laut störend: Die Grundlage für die Idee der Schwarzen Löcher hatte Albert Einstein vor gut hundert Jahren in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie gelegt. Allerdings war ihm das Konzept der ›punktförmigen Singularitäten‹ suspekt, in denen Materie und Strahlung einfach verschwinden.

Black Hole Messier_87

Sie nennen es eine Errungenschaft, sagte Thimbleman und applaudierte, und sie reden von Fortschritt. Sie ersetzen ein Herz, eine Niere, eine Leber. Bei ihnen heißt das Organspende.

Wer gibt sich für so etwas her?

Sie bilden sich ein, das Leben zu verlängern, sagte Thimbleman, doch sie verlängern das Sterben. Die Moderne, sagt Gramner, leide an tiefgreifender Sprachverwirrung. Wer nicht imstande sei, seine Begriffe treffend zu verwenden, sagt Gramner, finde sich nicht zurecht im Leben.

Sie peilen nichts, sagte der Ausguck und lachte, null, sagte er, das sei lustig.

Der Mensch, sagte Thimbleman,  habe sich aufgegeben. Wie nenne er das? Demenz? Alzheimer?

Zum Glück müssen wir nicht in jenen wirren Zeiten leben, rief der Ausguck, sprang auf, schlug einen Salto und war schon auf dem Weg zum Strand.

| WOLF SENFF
| Titelfoto: CSIRO, CSIRO ScienceImage 4350 CSIROs Parkes Radio Telescope with moon in the background, Crop, CC BY 3.0
| Abb: English: Event Horizon Telescope, Black hole – Messier 87, CC BY 4.0

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Roll over Lüneburg

Nächster Artikel

Argentinische Welten

Weitere Artikel der Kategorie »TITEL-Textfeld«

Kulturrevoltion

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kulturrevolution

Er habe nachgedacht, räumte Farb ein, er sei neugierig geworden und habe sich informiert.

Anne schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Farb warf einen Blick auf seine Tasse, er war vernarrt in den zierlichen rostroten Drachen, nur den Henkel, der sich im oberen Teil gabelte, fand er unpassend.

Tilman war rückte ungeduldig näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen. Farb hätte sich über Echnaton informiert? Wikipedia als Türöffner zum alten Ägypten?

Europa

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Europa

Die Erzählung ihrer Geburt beruht nicht auf griechischem, sondern auf kretischem Ursprung, eine, möchte man meinen, regionale Variante, und selbst dort sind sich die Erzähler nicht einig, ob sie eine Tochter oder die Schwester des Königs war, Europa ist verwirrend, wie könnte das anders sein, und daß die Erzählung so tief in der Vergangenheit wurzelt, entschuldigt nichts, die Unübersichtlichkeit ist gewollt.

Gedichte

TITEL-Textfeld | Slata Kozakova: Gedichte In meinem Bad liegt eine Nixe Sie sang mir zu, ich schleppte sie Fünf Treppen hoch an roten Haaren Tönt das Korallenpulver gut Wie schminkst du deine grünen Lippen Wie trennst du Schuppen von dem Hals Und deine Finger ohne Nägel Gekrümmt in Kiemen, sind so weich Und lautlos schäumt sie — beste Pflege Mattierend, glättend, eisenreich

Falsche Signale

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Falsche Signale
Eine Debatte findet ja gar nicht statt, Susanne, es geht vor allem darum, die Bevölkerung zu beruhigen, hysterische Reaktionen zu vermeiden.

Ist das verkehrt?

Auf keinen Fall. Tilman stand auf, holte den Tee aus der Küche und stellte die Kanne auf das schlichte weiße Stövchen, das ohne den zierlichen lindgrünen Drachen, der das übrige Service schmückte, stets leicht fehl am Platz wirkte.

Beacon to the world

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Beacon to the world

Mit stolzgeschwellter Brust nennt er seine Gegenwart Neuzeit, sich selbst kühn einen Homo sapiens und nimmt dennoch die vernichtenden Abläufe nicht wahr.

Wie ist das möglich, Gramner?

Der Mensch kann die Augen schließen, rein physisch, die Lider herunterklappen, Augen zu, und allem Anschein nach ist sein Geist ähnlich eingerichtet, seine Wahrnehmung kann hellwach, doch kann auch auf Null geschaltet sein.

Und wovon soll das abhängig sein?

Das ergibt Sinn, oder? Vor einem Anblick, der ihn quält, schließt er unwillkürlich die Augen, und auch seine Wahrnehmung sperrt sich gegen bestimmte Dinge, er tabuisiert sie.

Er will etwas nicht wahrhaben?

Er neigt dazu, manche Dinge nicht wahrzuhaben, Ausguck, zum Beispiel nimmt er nur in Ansätzen wahr, daß der Planet leidet, die Lebensgrundlagen gehen verloren, er verzeichnet die Symptome, er schweigt sich aus über Ursachen.

Er tut, was er kann.