Die Erzählung ihrer Geburt beruht nicht auf griechischem, sondern auf kretischem Ursprung, eine, möchte man meinen, regionale Variante, und selbst dort sind sich die Erzähler nicht einig, ob sie eine Tochter oder die Schwester des Königs war, Europa ist verwirrend, wie könnte das anders sein, und daß die Erzählung so tief in der Vergangenheit wurzelt, entschuldigt nichts, die Unübersichtlichkeit ist gewollt.
Ihre Mutter hieß Telephassa, die »weithin Leuchtende«, und wurde auch Argiope genannt, die »mit weißem Gesicht«, und daß uns das erneut so unübersichtlich daherkommt, so verwirrend, darf als ein Charakteristikum jener antiken Zivilisation eingeschätzt werden, die Erzähler widersetzen sich der präzisen, unwiderruflichen Einordnung, weshalb, wir werden sehen.
An den Gestaden des Meeres pflückte sie Blumen, als Zeus ihr in Gestalt eines Stieres entgegen trat. Nein, sie erschrak nicht, sie schien nicht einmal überrascht, weshalb, das Tier war außergewöhnlich, auf einer Vase ist es mit drei verschiedenen Farben wiedergegeben, und es heißt nicht allein daß sein Atem einen betörenden Duft verströmte, nein ein unwiderstehlicher Zauber habe die gesamte Erscheinung begleitet – Europa nahm willig Platz auf seinem Rücken und ließ sich über das Meer tragen.
Dieses Bild war ein beliebtes Motiv, auf Vasen zu malen, wir sehen Europa geflügelt wie eine Göttin, oder mit einem Fisch in ihrer Hand oder mit Blumen, die Darstellungen sind verschieden, niemand drängte auf einheitliche Wiedergabe, man schätzte regionale Varianten, auf anderen Bildern trug sie Rebenzweige mit Trauben, als wäre es ein Geschenk des Dionysos, oder sie hielt einen Reif in der Hand, ein Halsband, angefertigt von Hephaistos als ein Hochzeitsgeschenk des Zeus.
Überlieferung ist nicht dokumentarisch, sie reiht keine Fakten aneinander, sondern sie ist vielschichtig wie eine Erzählung, man muß sie lesen können und verstehen, sie ist facettenreich, sie öffnet Wege, sie spielt mit Wendungen, mit Fehlschlägen, mit Umleitungen.
Als Ort der Hochzeit gilt überwiegend die diktäische Höhle, die in einigen Überlieferungen auch als der Geburtsort des Zeus genannt ist, und andere erzählen, Zeus habe sich nicht in Stiergestalt, sondern als Adler mit Europa vereinigt, und zwar in der Krone einer Platane nahe der Stadt Gortyn, sei dem, wie es sei, wir fragen uns, weshalb den Griechen so wenig an unumstößlichen Fakten gelegen war, weshalb sie nicht nachforschten, keine Beweise einforderten, um die Details zu sichern und abweichende Versionen als apokryphe Schriften auszugrenzen.
Wir verstünden sie nicht? Die Zeiten seien wenig verändert, und sie hätten sich immer schon durch ihr südländisches Temperament ausgezeichnet, eine großmütige Mentalität, kosmopolitisch, kein Vergleich mit den Pfennigfuchsern, den Geschäftsleuten, den pedantischen Zentraleuropäern?
Schwierig. Man darf die Dinge nicht über einen Kamm scheren, nicht wahr, keineswegs, es gibt solche und solche, überall solche und solche, der Teufel steckt im Detail.
Zeus machte eine große Geschichte aus dieser Hochzeit, er wird bis über beide Ohren verliebt gewesen sein und überhäufte Europa mit einer Vielzahl an Geschenken: zu ihrem Schutz einen Speer, der jedes seiner Ziele traf, und wundersame Geschöpfe wie einen ehernen oder, wie andere berichten: goldenen Wachhund, auch einen ehernen Riesen, der dreimal täglich oder, wie andere berichten: dreimal jährlich die Insel umwanderte, und wieder andere stellen richtig: mit Zeus sei nicht der griechische Göttervater gemeint gewesen, sondern der kretische Sonnengott, der ebenfalls in Gestalt eines Stiers erschienen sei, und Pasiphae, die Gattin bereits eines Sohnes der Europa, sei einem weißglänzenden Stier verfallen, der von Poseidon, einem Bruder des Zeus, gesandt und dem Meer entstiegen sei, doch auch hier sind sich die Erzähler keineswegs einig, sie pflegen ihre Unterschiede, es heißt, dieser Stier sei wiederum Zeus gewesen.
Gut möglich, daß es für ihn lediglich eine Affaire war unter vielen, Zeus ist verrufen als Schürzenjäger, doch auch hier hält sich die Antwort im Schwange, an anderer Stelle erfahren wir, daß er mit Europa drei Söhne hatte.
Das ist schwierig auszuhalten, alles in allem, Sie verstehen, und mancher wird wie selbstverständlich nach einer ordnenden Hand verlangen, aus Gewohnheit, und weil er es anders nicht kennt.
| WOLF SENFF
| TITELFOTO: Klaus-Peter Simon, ZeugmaMuseum12, CC BY-SA 3.0