Bei Hannah Arendt heißt es im ersten von drei Teilen ihrer großen Studie über Walter Benjamin, die 1968 in der Zeitschrift ›Merkur‹ erschien: «Wenn es je einen ganz und gar Vereinzelten gegeben hat, so war es Benjamin.« Gerade dadurch aber sei sein Leben »trotz mancher Absonderlichkeit im Einzelnen ein so reines Zeugnis für die finsteren Zeiten und Länder des Jahrhunderts, wie das Werk, das mit so viel Verzweiflung diesem Leben abgezwungen wurde, paradigmatisch bleiben wird für die geistige Situation der Zeit.« DIETER KALTWASSER über die meisterhafte Biographie Walter Benjamins von Howard Eiland und Michael Jennings
Walter Benjamin gehört zu den wohl am schwersten fassbaren Denkern der Moderne. In Adornos ›Minima Moralia – Reflexionen aus dem beschädigten Leben‹ finden wir die Aufforderung: »Jeder Intellektuelle in der Emigration, ohne alle Ausnahme, ist beschädigt und tut gut daran, es selber zu erkennen, wenn er nicht hinter den dicht geschlossenen Türen seiner Selbstachtung grausam darüber belehrt werden will.« Wenn es einen Intellektuellen in der Emigration gab, der seine prekäre Existenz und seine Verletzungen reflektierte und in einzigartigen Denkfiguren festhielt, dann war es der jüdische Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin, der in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von biographischen Bearbeitungen erfahren hat, die nicht nur seiner Bedeutung Rechnung tragen, sondern auch eine Fortentwicklung der Aufgaben biographischen Schreibens darstellen. Dass die Rezeption und die Wirkung seines Werks einige Jahrzehnte nach seinem Tod so massiv und anhaltend sein würden, war zu seinen Lebzeiten nicht vorstellbar. Benjamin, dessen Flucht vor den Nationalsozialisten mit seinem Freitod in den Pyrenäen endete, beschrieb sein Freund Gershom Scholem einst als einen Menschen aus der totalen Vergessenheit, sein Name gehöre zu »den verschollensten in der geistigen Welt«.
Howard Eiland und Michael Jennings, die beiden Biographen dieser nun endlich auch in deutscher Sprache vorliegenden meisterhaften, umfassenden biographischen Lebensbeschreibung Walter Benjamins, sind allererste Adressen, wenn es um Leben und Werk dieses Autors geht. Beide sind englischsprachige Übersetzer und Herausgeber seiner Werke. Ihre große Kenntnis seiner Schriften, ihre Rolle bei der Förderung einer sich ständig erweiternden Sicht des Philosophen in englischer Sprache, ihre Arbeit als Interpreten führte sie zu dem Versuch, eine vollständige und umfassende, geradezu panoramatische Darstellung dieses rätselhaften, esoterischen, sich fortwährend weiterentwickelnden Denkens zu verfassen. Die Biographie stellt darüber hinaus auch die unterschiedlichen Haltungen zu Benjamin auf den Prüfstand.
Sie beginnt mit dem Satz: »Der jüdisch-deutsche Literaturkritiker und Philosoph Walter Benjamin gilt heute allgemein als einer der wichtigsten Zeugen der europäischen Moderne.« Dieser Zeuge wird auf seinem Weg begleitet, auf dem er den Geist seiner Zeit zu formulieren versuchte. Er schwankte zwischen Jugendbewegung, Zionismus, Marxismus und Messianismus. Dabei erfüllte sich seine Hoffnung während seiner Lebenszeit nicht, einmal »erstrangiger Kritiker der deutschen Literatur« zu werden. Zunehmend drängten persönliche Konstellationen und die gesellschaftliche Situation seiner Zeit diesen Autor in eine Außenseiterrolle. Hannah Arendt schreibt in ihrer Studie über Walter Benjamin:
»Niemand hat dies Zusammenspiel, den Ort, ›wo Schwäche und Genie … nur noch eins sind‹, besser gekannt als Benjamin, der ihn so meisterhaft in Proust diagnostizierte. Wer ihn gekannt hat, wird sich schwer des Eindrucks erwehren können, daß er von sich selbst sprach, als er mit so tiefem Einverständnis Jacques Rivière zitierend von Proust sagte, er sei ›an derselben Unerfahrenheit gestorben, die ihm erlaubt hat, sein Werk zu schreiben. Er ist gestorben aus Weltfremdheit …, weil er nicht wußte, wie man Feuer macht, wie man ein Fenster öffnet‹«.
Seine prekäre Existenz, die Verfolgung durch die Nationalsozialisten und die Flucht prägten seine letzten Lebensjahre. Die Auseinandersetzungen um die Interpretationshoheit seines Werks begannen schon bald nach dem Krieg: Wer war der wahre Testamentsvollstrecker – Theodor W. Adorno oder Hannah Arendt, Gershom Scholem oder die Neomarxisten? Oder vielleicht doch die Studentenbewegung mit ihrem »Tigersprung ins Vergangene«?
Die Schriften Benjamins, der am 15. Juli 1892 in Berlin geboren wurde und in einer großbürgerlichen jüdischen Familie aufwuchs, sind Mosaike, die Philosophie, Literaturkritik, marxistische Theorie und synkretistische theologische Inhalte umgreifen. Seine Laufbahn ging von der brillanten Esoterik seiner frühen Schriften aus, wie in seiner Dissertation »Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik« und der Beschäftigung mit religiösen Inhalten, die seine Freundschaft mit dem Religionsphilosophen Gershom Scholem befruchtete. In seiner »Lehrzeit in deutscher Literatur«, wie er sie nannte, legte Benjamin, so die Biographen, »bleibende Studien zur Kunstkritik der Romantik, zu Goethe und zum barocken Trauerspiel vor und erarbeitete sich in den Zwanzigerjahren seinen eigenen Platz als kritisch urteilender Befürworter jener radikalen Kultur, die sich in der Sowjetunion entwickelte, wie auch der Avantgarde, die die literarische Szene in Paris beherrschte«. In dieser Zeit begegnete er auch Ernst Bloch. 1923 lernt er Adorno kennen und mit ihm das Institut für Sozialforschung. Die Veröffentlichung seiner abgelehnten Habilitationsschrift unter dem Titel ›Ursprung des deutschen Trauerspiels‹ sowie der Fragmentensammlung ›Einbahnstraße‹ erfolgte 1928.
Ein Jahr später begann die Freundschaft mit Brecht. Mit ihm und seinem Freund László Moholy-Nagy schuf er »eine neue Perspektive des Sehens – einen avantgardistischen Realismus –, die sich von den orthodoxen Normen der Kunst und Literatur im deutschen Kaiserreich zu befreien suchte.« Zusammen mit Siegfried Kracauer machte er erstmals die Populärkultur zum Objekt seriöser Betrachtung: Er verfasste, so Howard und Jennings, »Essays über Kinderliteratur, Spielzeuge, Wetten, Graphologie, Pornographie, Reisen, Volkskunst, Lebensmittel, die Kunst von Randgruppen wie die der Geisteskranken und über eine Vielzahl von Medien, wie Film, Radio, Fotografie und die Regenbogenpresse«.
Benjamin wurde zu einer der zentralen Stimmen der Weimarer Kultur. In den letzten zehn Jahren seines Lebens entstanden einzigartige Studien über die modernen Medien und das Aufkommen des städtischen Warenkapitalismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts und dessen kulturellen »Phantasmagorien« in Paris. Obwohl das als Hauptwerk geplante Buch ›Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts‹ ein monolithisches Fragment blieb und als »Passagen-Werk« erst posthum erschien, führten die darin enthaltenen »Untersuchungen und Überlegungen« zu wegweisenden Studien, »so die bedeutende ›Polemik‹ von 1936, ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹ und die Essays über Charles Baudelaire, denen dieser Dichter seine Stellung als repräsentativer Schriftsteller der Moderne verdankt«, resümieren Eiland und Jennings. Sie betonen, Benjamin lasse sich nicht auf seine Rolle als herausragender Kritiker und revolutionärer Theoretiker einschränken: »Er hinterließ ein substantielles Œuvre im Grenzbereich von Fiktion, Reportage, Kulturanalyse und Memoiren.«
Sein »Montage-Buch« ›Einbahnstraße‹ von 1936 und insbesondere die ›Berliner Kindheit um Neunzehnhundert‹, zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht, seien moderne Meisterwerke, die sich traditionellen Gattungsschemata und eindeutigen Zuordnungen widersetzten. Unter den längeren oder kürzeren Prosawerken sind »Monographien, Aufsätze, Kritiken, Sammlungen philosophischer, historiographischer und autobiographischer Vignetten, Hörspiele, von ihm edierte Briefe und andere literarhistorische Dokumente, Kurzgeschichten, Dialoge wie Tagebücher« zu finden. Darüber hinaus hinterließ Benjamin Gedichte, Übersetzungen französischer Prosa und Poesie sowie Tausende fragmentarischer Reflexionen unterschiedlicher Länge und Bedeutung.
Seine Schriften übten, wie Stuart Jeffries in seinem 2019 in deutscher Übersetzung erschienenen Buch ›Grand Hotel Abgrund‹, das die Frankfurter Schule und ihre Zeit eindrucksvoll schildert, einen tiefen Einfluss auf deren führende Mitglieder der Frankfurter Schule aus, auf Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Friedrich Pollock und Theodor W. Adorno. Doch trotz des hegelianisierten Marxismus trennte sich vor allem Horkheimer nicht von einer schopenhauerschen Grundierung seines Philosophierens. »So wie die Zivilisation für Benjamin notwendig eine barbarische Seite hatte,« schreibt Jeffries, »so ist für Horkheimer sogar noch die Utopie einer gerechten Gesellschaft notwendig mit Schuld befleckt.«
Im Exil kommt es auch zur engen Freundschaft mit Hannah Arendt, die er schon aus seiner Berliner Zeit kannte, und Hermann Hesse. Ihr letztes längeres Gespräch führten Arendt und Benjamin noch wenige Tage vor seinem Fluchtversuch nach Spanien in Marseille. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen am 1. September 1939 verließ Benjamin überstürzt Paris in das östlich der Hauptstadt gelegene Chauconin. Von dort flüchtete er nach Lourdes, von wo er zusammen mit Henny Gurland, der späteren Frau von Erich Fromm, und ihrem Sohn zunächst weiter nach Marseille reiste, bevor sie im September 1940 mit Hilfe der österreichischen Widerstandskämpferin und Fluchthelferin Lisa Fittko den Versuch unternahmen, nach Spanien zu gelangen. Von dort aus wollte er versuchen, über Portugal mit seinem USA-Visum auszureisen.
Der Weg über die Pyrenäen muss ein Martyrium für den schwer herzkranken Walter Benjamin gewesen sein. Er weigerte sich, seine schwere schwarze Aktentasche von jemand anderem tragen zu lassen, sie enthalte, so Benjamin, sein neues Manuskript, und es müsse gerettet werden. Aber es ging verloren und seitdem, so die Biographen,«[sind] die Spekulationen über die Identität dieses Manuskripts ins Kraut geschossen«.
Im kleinen spanischen Grenzort Port Bou, wo er trotz seines Grenzübertritts die Auslieferung an die Deutschen befürchten musste, nimmt er sich in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 mit einer Überdosis Morphium das Leben. Lion Feuchtwanger, Heinrich und Golo Mann, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel war es vierzehn Tage zuvor gelungen, über den felsigen Weg zu entkommen. An zentraler Stelle seines Essays »Über den Begriff der Geschichte«, den er am Ende seines Lebens verfasste, beschwört Benjamin ein Bild, das ihn zwanzig Jahre seines Lebens lang begleitet hatte – Paul Klees »Angelus Novus« – und ihm schließlich zur Denkfigur des »Engels der Geschichte« wird:
»Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. […] Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. […] Ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«
Bertolt Brecht erfuhr erst bei seiner Ankunft in Santa Monica von Benjamins Freitod. Nach einer Äußerung Hannah Arendts reagierte er auf die Nachricht mit den Worten, dies sei »der erste wirkliche Verlust, den Hitler der deutschen Literatur zugefügt habe«. Über Benjamins Tod schrieb er vier Gedichte, eines davon, ›Zum Freitod des Flüchtlings W.B.‹, lautet:
Ich höre, daß du die Hand gegen dich erhoben hast
Dem Schlächter zuvorkommend.
Acht Jahre verbannt, den Aufstieg des Feindes beobachtend
Zuletzt an eine unüberschreitbare Grenze getrieben
Hast du, heißt es, eine überschreitbare überschritten.
Reiche stürzen. Die Bandenführer
Schreiten daher wie Staatsmänner. Die Völker
Sieht man nicht mehr unter den Rüstungen.
So liegt die Zukunft in Finsternis, und die guten Kräfte
Sind schwach. All das sahst du
Als du den quälbaren Leib zerstörtest.
Titelangaben
Howard Eiland / Michael W. Jennings: Walter Benjamin
Eine Biografie
Übersetzt aus dem Englischen von Ulrich Fries und Irmgard Müller
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
1021 Seiten, 58,00 EUR
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Stuart Jeffries: Grand Hotel Abgrund
Die Frankfurter Schule und ihre Zeit
Aus dem Englischen übersetzt von Susanne Held
Klett-Cotta 2019, Stuttgart 2019
509 Seiten, 28 Euro
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