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Taiping

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Taiping

Ein Aufstand? Und deshalb, sagst du, kommen sie zuhauf über den Ozean? Wie kommst du darauf, Thimbleman?

Sie erzählen es in der Barbary Row, die Welt ist aus den Fugen.

In deinem Alter solltest du dich nicht in zwielichtigen Spelunken herumtreiben. Aber es stimmt. In südlichen Provinzen Chinas tobt ein gewaltiger Aufstand, unvorstellbar, fünfzehn Jahre lang, er wird zwanzig bis dreißig Millionen Menschenleben fordern.

Was geht es uns an, sagte Crockeye, das geschieht auf der anderen Seite des Planeten.
Ob er nicht zugehört habe, wollte LaBelle wissen, sie flüchten vor Tod und Zerstörung.
In der Stadt gehe es eh drunter und drüber, LaBelle, sie fänden auch hier keine Sicherheit.
Sie lebten gemeinsam nicht weit vom Hafen und kümmerten sich gegenseitig.

Es sei ein Elend, sagte der Ausguck, stand auf, lief einige Schritte in die Nacht und schlug einen Salto.

Eldin lächelte und legte einen Scheit Holz ins Feuer.

So seien die Zeiten, sagte er.

Der Taiping-Aufstand, sagte Gramner, tobe seit einigen Jahren, das sei doch bekannt.

Kein Vergleich mit unserer idyllischen Lagune, spottete Crockeye.

Wir sind blutrünstige Walfänger, vergiß das nicht, mahnte Bildoon.

Trotzdem, sagte Crockeye.

Dieser Aufstand, erklärte Sut, sei ohne Beispiel, in den südlichen chinesischen Provinzen Guangxi und Guangdong sei die gewachsene Struktur erschüttert, und das seit langem, durch Piraterie schon zur Jahrhundertwende, durch die gesetzlosen Aktivitäten der Triaden und den expansiven Opiumhandel der Briten während der zwanziger und dreißiger Jahre, demobilisierte Söldner aus dem ersten Opiumkrieg zögen als Räuberbanden durchs Land, und zudem habe die britische Flotte die Piraten ins Landesinnere in das Flußsystem Guangxis verdrängt, die Verlagerung des Handels nach Shanghai habe Arbeit vernichtet, die Menschen leiden.

Was für ein Chaos, stöhnte Harmat.

Eine entsetzliche Gemengelage, sagte der Rotschopf, die Ursachen kannst du kaum sortieren, aber so sind sie, die Welt ist aus den Fugen.

Vielschichtig, sagte Pirelli und suchte nach Ordnung, allein der Opiumkonsum, sagte er, habe unzählige Existenzen untergraben.

Die Flammen schlugen hoch, der Ozean rauschte von fern, der Abend in der Ojo de Liebre war friedlich, die Männer waren erschöpft, sie hatten am Tage zwei Wale zur Strecke gebracht, sie genossen die Stille der Nacht.

Es waren die Briten, sagte Pirelli, die das Opium aus Indien bis in die südlichen Provinzen schmuggelten, nach außen traten sie als ehrbare Kaufleute auf, die Regierung des Kaiserreichs suchte zwar den Handel mit Opium zu unterbinden, hatte jedoch keinen Erfolg, der Konflikt zog sich über Jahre hin und löste zwei Kriege aus, die damit endeten, daß französische und britische Truppen den kaiserlichen Sommerpalast Pekings zerstörten, eine Demütigung, die einer Katastrophe für das sinozentristische Selbstverständnis gleichkam, und China, durch die Taiping-Rebellion zusätzlich geschwächt, wurde vertraglich gezwungen, seinen Handel für europäische Interessen zu öffnen.

Drunter und drüber, sagte Bildoon.

Immer schon, sagte der Rotschopf.

Auf der anderen Seite des Planeten, wiederholte Crockeye.

Die Verhältnisse in der Stadt seien kaum besser, widersprach Bildoon.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Der Ausguck schälte sich aus der Dunkelheit.

Wir müssen die Welt neu denken, sagte Sut, vermutlich sei sie ein Mosaik, bunt, aus vielen verschiedenen Teilen, manches spreche dafür, und ein Teil wie unsere Lagune bleibe verschont von dem Getöse und all der Zerstörung, es herrsche ein guter Geist, doch niemand wisse das vorauszusagen, das könne sich plötzlich ändern wie sich die Winde drehen, oder eine Flaute trete ein, niemand kenne die Gründe, doch dieser Schonraum bleibe eine Tatsache, unumstößlich, mag sein von Zeit zu Zeit wechsle er den Standort, was wüßten wir denn, doch vielleicht sei es so.

| WOLF SENFF

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Sie waren bei Tagesanbruch in die Lagune aufgebrochen, in zwei Schaluppen, Pirelli und Mahorner im Bug, Eldin hatte gleich mit der ersten Harpune einen Treffer gelandet, es wurde ein erbitterter Kampf, die übliche blutrünstige Routine, der Ausguck mußte sich noch an derartige Bilder gewöhnen.

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Darüber wird wenig geredet.

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Mit stolzgeschwellter Brust nennt er seine Gegenwart Neuzeit, sich selbst kühn einen Homo sapiens und nimmt dennoch die vernichtenden Abläufe nicht wahr.

Wie ist das möglich, Gramner?

Der Mensch kann die Augen schließen, rein physisch, die Lider herunterklappen, Augen zu, und allem Anschein nach ist sein Geist ähnlich eingerichtet, seine Wahrnehmung kann hellwach, doch kann auch auf Null geschaltet sein.

Und wovon soll das abhängig sein?

Das ergibt Sinn, oder? Vor einem Anblick, der ihn quält, schließt er unwillkürlich die Augen, und auch seine Wahrnehmung sperrt sich gegen bestimmte Dinge, er tabuisiert sie.

Er will etwas nicht wahrhaben?

Er neigt dazu, manche Dinge nicht wahrzuhaben, Ausguck, zum Beispiel nimmt er nur in Ansätzen wahr, daß der Planet leidet, die Lebensgrundlagen gehen verloren, er verzeichnet die Symptome, er schweigt sich aus über Ursachen.

Er tut, was er kann.

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Nein, ganz und gar nicht, null, wehrte Tilman ab, er werde keineswegs darauf verzichten, die Kultur des alten Ägypten heranzuziehen, weshalb, wir müßten lernen, die Gegenwart aus gebührender Distanz wahrzunehmen, Distanz sei hilfreich.

Anne schenkte Tee nach.

Farb griff zu einem Keks.

Sich ausschließlich mit dieser Kultur zu befassen, wandte Farb ein, das werde auf Dauer eintönig.

Die drei Jahrtausende seien in höchst verschiedene Abschnitte unterteilt, in drei Reiche mit jeweils Zwischenzeiten, einer Spätzeit und einigen Jahrzehnten, von denen wir heute wohl sagen würden, das Land habe unter fremder Herrschaft gestanden, es sei besetzt gewesen.

Klingt kompliziert und höchst lebendig.

Interessant, sagte Anne, und ob man daraus lernen könne.