/

Beacon to the world

Mit stolzgeschwellter Brust nennt er seine Gegenwart Neuzeit, sich selbst kühn einen Homo sapiens und nimmt dennoch die vernichtenden Abläufe nicht wahr.

Wie ist das möglich, Gramner?

Der Mensch kann die Augen schließen, rein physisch, die Lider herunterklappen, Augen zu, und allem Anschein nach ist sein Geist ähnlich eingerichtet, seine Wahrnehmung kann hellwach, doch kann auch auf Null geschaltet sein.

Und wovon soll das abhängig sein?

Das ergibt Sinn, oder? Vor einem Anblick, der ihn quält, schließt er unwillkürlich die Augen, und auch seine Wahrnehmung sperrt sich gegen bestimmte Dinge, er tabuisiert sie.

Er will etwas nicht wahrhaben?

Er neigt dazu, manche Dinge nicht wahrzuhaben, Ausguck, zum Beispiel nimmt er nur in Ansätzen wahr, daß der Planet leidet, die Lebensgrundlagen gehen verloren, er verzeichnet die Symptome, er schweigt sich aus über Ursachen.

Er tut, was er kann.

Das ist zu wenig, sagte Gramner, er erfaßt nicht die Tragweite des Geschehens, denn nicht eine Zivilisation geht zugrunde, sondern das, was wir als eine lebendige Welt kennen, wird beseitigt, eliminiert, ausnahmslos vernichtet, zerrieben zwischen gewalttätigen Ausbrüchen der Elemente, er bräuchte sich lediglich nüchternen Auges umzusehen, müßte die Brände wahrnehmen, die Überflutungen, die allgegenwärtigen Giftstoffe, und er müßte bereit sein, eins und eins zu addieren.

Was redet ihr, sagte Crockeye.

Es geht um die Zukunft, Crockeye, das läßt sie nicht los.

Was kümmert es uns, London, die Zustände, die sie beschreiben, liegen Jahrhunderte voraus, du wirst sie nicht erleben.

Erste Schritte sind getan, sagte Gramner, die Union Pacific Railroad verbindet die Ozeane, das Dampfschiff löst den Windjammer ab, die Goldgräberei greift um sich, die Zustände in der Stadt sind empörend, das geht uns alle an, Crockeye, wir sollten wissen, was wir tun, hier und heute.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Thimbleman warf einen Blick zum Sternenhimmel.

Touste schlug einige Akkorde an.

LaBelle hätte gern eine Kleinigkeit gegessen.

Rostock genoß die Stille, das Rauschen des Ozeans schmeichelte aus der Ferne.

Bildoon war tief in Gedanken versunken.

Harmat starrte in die lodernden Flammen.

Ein seltsames Geschöpf, dieser Homo sapiens, sagte Mahorner.

Aggressiv, sagte LaBelle.

Er merke nicht, was er anrichte, sagte London.

Zu allerletzt, wie er sich selbst verändere, sagte Sanctus, das Gift verbreite sich nicht nur in der umgebenden Welt, sondern ebenso in ihm selbst.

Davor verschließe er die Augen, sagte der Ausguck.

Er lasse sich treiben, sagte Rostock.

Ob es zu weit gehe, von degenerativen Abläufen zu reden, fragte Rostock.

Jedenfalls werde er sich dieser Frage stellen müssen, sagte Thimbleman.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

Der Ausguck stand auf, ging einige Schritte und löste sich in der Dunkelheit auf.

Was hatte der sich nur immer mit seinem Salto, fragte sich Crockeye.

Man möchte nicht während jener Neuzeit zuhause sein, sagte Gramner, die gewachsene Zivilisation breche ein, erstarrte Verhältnisse lösten sich auf, niemand wisse, wie es weitergehe, und während nie dagewesene Kriege vorbereitet, Massenvernichtungswaffen in Stellung gebracht würden, verbreiteten die Medien allezeit gute Laune, in der Politik stünden voranweisende Ziele nicht zur Debatte, man zähle, man rechne, CO²-Ausstoß und Wärmegrade gäben die Richtwerte vor, niemand möchte im Alltag Unruhe stiften, Vorsicht sei angesagt, Samthandschuhe und noch einmal Samthandschuhe, und der Homo sapiens sei darauf bedacht, die weniger angenehmen Dinge zu ignorieren.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der klassische Philosoph der Moderne

Nächster Artikel

#Offline

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Moral

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Moral Der Planet ist im Begriff, dem Menschen die Gastfreundschaft aufzukündigen. Er beträgt sich nicht wie ein Gast, oder? Das wird niemand bestreiten, Tilman.

straßbesetzt

Kurzgeschichte | Jürgen Landt: straßbesetzt angela merkel hatte sich in mich verliebt. der wahlkampf war schon zu ende. dennoch standen genügend öffentliche auftritte an. manchmal hielt ich mich etwas abseits, oftmals war ich direkt an ihrer seite. oftmals trug ich mein langes gelichtetes weißes haar mit einer klammer zusammengekniffen, manchmal ließ ich es einfach offen hängen.

Ein Schauspieler ohne Zuschauer

Roman | Milan Kundera: Das Fest der Bedeutungslosigkeit »Man muss sie lieben, die Bedeutungslosigkeit, man muss lernen, sie zu lieben«, verkündet Ramon, eine der Hauptfiguren in Milan Kunderas neuem Roman ›Das Fest der Bedeutungslosigkeit‹ – das erste größere Erzählwerk des 1929 in Brünn geborenen und seit den 1970er Jahren in Frankreich lebenden Autors seit 2001. Damals hatte sich Kundera in ›Die Unwissenheit‹ noch mit seinem eigenen Schwellendasein zwischen den Kulturen beschäftigt, hatte seine Figuren Irena und Josef mehr aus Neugierde denn aus echtem Heimweg nach langer Zeit von Frankreich nach Prag zurückgeschickt. Von Peter Mohr

Kleine Prosa ganz groß

Kurzprosa | Marie T. Martin: Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen? Marie T. Martins Einblicke in eine durchwühlte Handtasche – der neue Band mit Kurzprosa ›Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen?‹ ist im ›Leipziger poetenladen‹ erschienen. Von STEFAN HEUER

Worte eines alten Teenagers

Kurzprosa | Truman Capote: Wo die Welt anfängt Um diesen Band von Erzählungen richtig zu begreifen, sollte man sich zuerst mit dem Nachwort der Herausgeberin Anouschka Roshani befassen.VIOLA STOCKER reiste als Passagier durch ein Universum des amerikanischen Traums.