//

Schwermut

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Schwermut

Die Worte wechseln, doch real ändere sich null, ob nun Trübsinn, ob Weltschmerz, ob Melancholie.

Seit mehreren Jahrzehnten behaupte sich Depression, gelegentlich auch burn out, doch burn out, so werde erklärt, sei graduell anders gewichtet, und letztlich wisse niemand Bescheid, unter welchem Namen auch immer.

Auf den einzelnen Fall komme es an, laute eine Standardfloskel, die Beziehung zwischen Arzt und Patient müsse stimmen, manch einer suche jahrelang nach einem passenden Psychiater und Therapeuten, und eine einheitliche Symptomreihe, die lediglich abzuhaken wäre, die gäbe es nicht.

Das müsse man wohl so oder so verstehen, Farb, resumierte Tilman, einerseits als eine Bankrotterklärung, daß rein gar nichts klar sei, andererseits als das aufrichtige Bemühen, den individuellen Fall zu behandeln, und allein den, und auf jede allgemein gültige Aussage zu verzichten, die Dinge zeigten sich kompliziert, doch generell nehme man an, daß bestimmte Verbindungswege im Gehirn reduziert arbeiten würden, das gelte aufgrund von MRT-Aufnahmen als zweifelsfrei nachgewiesen.

Aber die Depression sei auch eine organische Erkrankung?

Das mache es eben so schwierig, Farb, sie werde langfristig behandelt, und verglichen mit der Anzahl der durch andere Erkrankungen begründeten Fehltage stehe sie an erster Stelle.

Tilman beugte sich vor und schenkte Tee nach. Der Himmel war wolkenverhangen, es regnete heftig, ein Wolkenbruch. Ein Herbsttag. Der Blick hin zum Gohliser Schlößchen war getrübt.

Farb nahm einen Keks.

Ein Ungleichgewicht im Gehirn, fragte Anne, ob das nicht eine abenteuerliche These sei, und was denn wohl unter einem Gleichgewicht im Hirn zu verstehen sei, wokeness, immer wieder neue Namen, ein Haschen nach Wind.

Durch MRT-Aufnahme nachgewiesen, beharrte Farb, und unbestritten auf der Höhe der Zeit.

Ihr sei das nicht recht geheuer, sagte Anne, eine Erkrankung ohne verläßliche Symptomatik, von der niemand wisse, wo sie herkomme, die, so heiße es recht nebulös, das gesamte Leben dominiere, die es grau in grau einfärbe und das Gefühl vermittle, gar nicht richtig angekommen zu sein, nichts spüren zu können und nichts wert zu sein.

So werde die seelische Gefühlslage durch Patienten beschrieben, sagte Farb, und hinzu kämen organische Symptome.

Vielleicht, setzte Anne nach, sei ja das Leben tatsächlich manchmal grau in grau, und der Eindruck dränge sich auf, nichts wert zu sein, und nein, sie wolle den Betroffenen keineswegs nahetreten, aber sie frage sich, ob eine solche Gefühlslage nicht durchaus einmal den Alltag real einfärben könne, grau in grau, und am folgenden Tag sei der Himmel dennoch wieder wolkenlos.

Er verstehe nicht, sagte Farb.

Ein Anflug von Melancholie müsse kein Krankheitssymptom sein, erklärte sie, der Alltag unterliege wechselnden Stimmungen, mehr und weniger ausgeprägt, schwankend, oft unkontrollierbar, man neige zu Panik, und nein, sie wolle das nicht kleinreden, aber vermutlich leide die individuelle innere Stärke doch erheblich entschiedener unter äußeren materiellen Bedingungen, man müsse sich einschränken heutzutage, Not greife um sich, Armut, die Hoffnung drohe verlorenzugehen, die Zukunft stehe auf dem Spiel, da werde der Alltag tiefgrau eingefärbt, keine Frage, doch nicht jeder Hauch von Weltschmerz sei damit gleich ein Krankheitssymptom, aber die Verzweiflung, die sich äußere, müsse man ernstnehmen.

Tilman rückte näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung. Welch irritierendes, kompliziertes Thema.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Front-Begradigung

Nächster Artikel

Ein Wiedersehen

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Auflösung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Auflösung

Er sehe sich Irrwegen ausgesetzt, sagte Farb, Sackgassen, täuschenden Abzweigungen, wohin das führe, es würden falsche Fragen gestellt.

Zufall, nein, sagte er, das sei kein Zufall und ebenso wenig ein Anzeichen von Demenz, es würden falsche Fährten gelegt.

Annika legte ihr Reisemagazin beiseite.

Tilman schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Absicht, sagte er, das geschehe mit voller Absicht, die Öffentlichkeit werde auf Glatteis geführt.

Wenn dem Esel zu wohl werde, sagte Tilman, gehe er aufs Eis tanzen.

Annika lächelte. Man wisse sich nicht anders zu helfen, sagte sie.

Der jugendliche Camus

Menschen | Abel Paul Pitous: Mon cher Albert Wird Albert Camus noch gelesen? Die Pest? Camus stand stets im Schatten von Jean Paul Sartre. Oh, sie begründeten die Tradition der schwarzen Rollkragenpullover, dafür sei beiden gedankt, Camus kam leider früh zu Tode. Der hier veröffentlichte Brief fand sich im Nachlass des 2005 verstorbenen Abel Paul Pitou, eines Jugendfreundes von Camus, und wurde 2013 von dessen Sohn zur Veröffentlichung gegeben – die unscheinbarsten Manuskripte erreichen die Welt auf den kompliziertesten Pfaden. Pitous und Camus spielten in diversen Schulmannschaften gemeinsam Fußball, das verleiht dem Text spezielle Würze in diesem Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft.

Verwirrung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Verwirrung

Die allgemeine Konfusion verdichte sich, nicht wahr, man müsse sich eine gehörige Portion Argwohn bewahren, sagte Tilman und  griff nach einem Vanillekipferl.

Farb schenkte Tee ein.

Der Planet sei heruntergewirtschaftet, die Dinge würden unaufhaltsam bröckeln, sagte er, der Status quo werde allerorten unzureichend oder falsch erklärt, und niemand wundere sich noch über ungewöhnliche Perspektiven.

Christoph Heins aktuelles Buch »Vor der Zeit« erzählt alte Mythen neu

Kurzprosa | Christoph Hein: Vor der Zeit. Korrekturenx Mythen sind versprachlichte Menschheitserfahrungen. Jede Kultur besitzt die ihren. In poetischer Form geben sie Auskunft über das Woher und Wohin einer Gesellschaft. Christoph Hein hat sich nun 25 dieser Erzählungen vorgenommen und sie mit kleinen Korrekturen versehen. Und augenblicklich wird evident: Auch uns haben Zeus und Hera, Helena und Dionysos, Eros und Echo noch einiges zu sagen. Von DIETMAR JACOBSEN

Landt in Sicht!

Kurzprosa | Jürgen Landt: Letzter Stock im Feuer In gewohnter Art und Weise: gerade heraus, nackt und ungeschminkt wie die Wirklichkeit bewältigt Jürgen Landt in seinem neuen Buch Letzter Stock im Feuer den Irrsinn des Alltags, des menschlichen Lebens und Erlebens. Der Zeitbogen des Erzählten spannt sich dabei über die letzten dreißig, vierzig Jahre und beginnt mitten in der DDR. Von RÜDIGER SASS