//

Anthropozän

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Anthropozän

Homo sapiens. Wer ließ sich das einfallen.

Ein Wissenschaftler, Annika.

Klar. Da kriegst du das heulende Elend.

Sie sind außerstande, sich wohnlich einzurichten, sie richten das Leben auf dem Planeten zugrunde. Eine Spezies, unfähig sich in die Natur zu integrieren, und nicht nur das, sondern wo immer sie sich aufhält, zerstört sie, sei es in der Anatomie während der Anfänge der Medizin, sei es die Spaltung des Atoms. Die Lunte ist gezündet, sie brennt, der große Knall ist absehbar.

Alles ist Oberfläche, Tilman, die Wissenschaft ist Teil davon, und der Urknall, anstatt daß er den Anfang der Zeiten begründe, er stehe vernichtend bevor, auf Sprache sei wenig Verlaß.

Bei hellem Wetter glitzert die Lagune in lebhaftem, blauen Glanze, dessen Strahlenbette die fernen grünen Eilande zu entsprießen scheinen. Kristallene, die Lagune durchzitternde Lichtbündel gestatten dem verwunderten Auge einen Blick auf den Korallengarten drunten. Noch zauberhafter sind die Lichteffekte in den bauschigen Brandungswellen, und hinter ihnen, in weiter Ferne hebt sich der nebel- und dunstfreie Himmel messerscharf vom gewölbten Meeresspiegel ab.

Annika mußte niesen. Sie hatte sich eine harmlose Erkältung zugezogen und einen warmen Schal umgelegt, selbstgestrickt, irische Schafwolle, matt türkisfarben, sie trank einen Kamillentee, nahm zwei Löffel Honig.

Der destruktive Trend ist massiv, verstehst du, er tritt heimtückisch auf, sagte Tilman, und schmeichelt sich ein, macht auf gut Wetter, er raspelt Süßholz, zeigt jedoch, sobald der Mensch Zutrauen faßt, sein wahres Gesicht und schlägt zu.

Der Mensch merkt nichts?

Er merkt das nicht, nein, ihm fehlt das Sensorium, er liebt den Zucker und die Süßigkeit, er ist im Nu übertölpelt, er liebt den Rausch, ihm fehlt die Distanz, und wie soll er Distanz einnehmen, solange ihn Lob und Schmeichelei verführen.

Du verteidigst ihn?

Ich verteidige ihn nicht, Annika, nein, ich nehme nur seine Schwächen wahr, er ist diesem Muster verfallen.

Seiner Eitelkeit, an der man ihn fassen kann?

Das Maschinenwesen versetzt ihn in einen anhaltenden Rausch des Erfolgs, er feiert, was er Fortschritt nennt, als eine Kette faszinierender technologischer Revolutionen, er überschätzt sich maßlos, er wiegt sich in dem Wahn, daß das kein Ende haben werde, und er hat kein Auge für den Schaden, den er anrichtet.

Er richtet das lebendige Gleichgewicht der Natur zugrunde, Tilman. Du erinnerst dich an die paradiesischen Inseln der Südsee, von denen einst die Seefahrer schwärmten und zu denen berühmte Maler reisten? Nicht nur daß dort vor einem halben Jahrhundert Atombomben getestet wurden, sondern der verstrahlte Abraum, der auf einer Insel des Eniwetok-Atolls unter einer Betondecke gelagert ist, droht diese Decke aufzubrechen.

Wie sagt man dazu? Die Vergangenheit holt uns ein? Unser Übereifer fällt uns auf die Füße?

Die Natur hat Plutonium-239, ein unvorstellbar zerstörerisches Element, mit größter Sorgfalt und quasi unauffindbar an sehr alte Gesteinsformationen gebunden, es kommt nur in geringsten Spuren vor. Der Mensch baut es ab und setzt es in seinen oberirdischen Atomwaffentests auf den Marshall-Inseln während der fünfziger und sechziger Jahre und gegenwärtig im Betrieb seiner Kernreaktoren frei, das wäre die Lunte, Tilman, sie brennt.

Annika lehnte sich erschöpft zurück.

Tilman stand auf, ging in die Küche, goß einen Kamillentee auf und stellte den schlichten weißen Becher vor Annika auf den gläsernen Couchtisch, Annika verrührte zwei Teelöffel Honig.

Der Nachmittag blieb eher trüb. Tilman hatte sich gesetzt und blickte durch die Terrassentür nach draußen.

   Ich kann kaum die Ursachen angeben, aber für mich liegt in diesen äußern Küsten der Lagunen-Inseln etwas ungemein Großartiges, es liegt eine große Einfachheit in diesem barrenartigen Strande, der Einfassung mit grünem Buschwerk und hohen Kokos-Palmen, der festen Ebene von abgestorbenem Korallen-Gestein, welches hier und da mit großen, losen Fragmenten überstreut ist, und der Linie wütender, sich brechender Wellen, welche nach beiden Seiten hin fortrollen. – Der seine Wasser über das breite Riff schüttende Ozean scheint ein unbesiegbarer, unendlich mächtiger Feind zu sein, und doch sehen wir, wie ihm widerstanden, ja wie er besiegt wird, und zwar mit Mitteln, welche auf den ersten Blick äußerst schwach und unwirksam erscheinen. Mag der Orkan tausende ungeheurer Bruchstücke losreißen – und doch bleiben diese niedrigen, unbedeutenden Korallen-Inselchen siegreich bestehen.

Oft wird davon geredet, Annika, daß man die Dinge vom Ende her betrachten müsse.

Wir befinden uns im Endstadium, nicht wahr?

Unübersehbar. Die Betondecke erodiert, gleichzeitig steigen die Meeresspiegel, und von Plutonium-239 belastetes Material wird in den Ozean gespült. Es gibt keine über Jahrtausende hin sicheren Endlager, es ist vermessen, das überhaupt zu erwägen, ein Verbrechen an der Menschheit, das kontaminierte Kühlwasser von Fukushima sickert längst in den Pazifik, und das ist nur eine der unaufhaltsamen Katastrophen.

| WOLF SENFF

Unterbrechertexte aus: August Erdland, Die Marshall-Insulaner, Münster 1914, S. 9, und: Charles Darwin, Reise eines Naturforschers um die Welt, Stuttgart 1875, S. 530, S. 537.

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der Mut der Verzweiflung

Nächster Artikel

Fadenspiele

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Bewusstsein für imaginäre Welt

Kurzprosa | Hartmut Lange: Am Osloer Fjord oder der Fremde25

»Der Mensch hat die Fähigkeit, die eigene und sonstige Natürlichkeit gedanklich zu übersteigen, das heißt, er hat ein Bewusstsein, und dieses Bewusstsein schafft eine imaginäre Welt und richtet sich danach aus«, heißt es im essayistischen Nachwort des neuen Novellenbandes Am Osloer Fjord oder der Fremde aus der Feder von Hartmut Lange. Von PETER MOHR

Tambora

Textfeld | Wolf Senff: Tambora Nein, nicht ich, sagte der Ausguck, ich war nicht dabei. Thimbleman lachte. Du warst noch gar nicht auf der Welt, stimmt’s? Meine Eltern erzählten davon. Sie sagen, es sei schrecklich gewesen. Ich weiß, Gramner erwähnte den Ausbruch. Das Ende der Welt, sagt Gramner. Der Tambora befindet sich auf Sumbawa, einer Insel des Sundabogens östlich von Java. Weit, weit weg von unserer idyllischen Lagune, sagte der Ausguck Endlos weit. Und dennoch – ein nie dagewesener Ausbruch zu Beginn unseres Jahrhunderts, sagt er, folgenschwer wie der des Krakatau, als schon das Jahrhundert zu Ende ging, Jahrzehnte nach

Lesestoff

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Lesestoff

Was Annika gerade lese, fragte Farb.

Pearl S. Buck, sagte Tilman, sie lebte von 1892 bis 1973, doch wie komme Annika auf diese Autorin.

Sie sei mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden, 1938, sagte Farb, ihr Werk sei nicht unumstritten.

Ihr werde ein in Teilen triviales Niveau vorgehalten, erklärte Tilman.

Sie lese ›Drachensaat‹, sagte Annika, ›Dragon Seed‹, 1942, das Geschehen spiele während des chinesisch-japanischen Krieges, der im Juli 1937 durch einen Zwischenfall südöstlich von Beijing ausgelöst worden sei, sie lese Pearl S. Buck gern, sagte sie, und sei fest entschlossen, mehr von ihr zu lesen.

Taiping

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Taiping

Ein Aufstand? Und deshalb, sagst du, kommen sie zuhauf über den Ozean? Wie kommst du darauf, Thimbleman?

Sie erzählen es in der Barbary Row, die Welt ist aus den Fugen.

In deinem Alter solltest du dich nicht in zwielichtigen Spelunken herumtreiben. Aber es stimmt. In südlichen Provinzen Chinas tobt ein gewaltiger Aufstand, unvorstellbar, fünfzehn Jahre lang, er wird zwanzig bis dreißig Millionen Menschenleben fordern.

Nahstoll (fortges.)

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Nahstoll fortges.

Der Bruder sei leicht abgehoben, charakterlich, ja, sagte Setzweyn und unterdrückte ein Lächeln, er fliege, er fliege leidenschaftlich gern in der Welt umher, habe jedoch null Interesse an Reisezielen, nein, touristisch auf gar keinen Fall, er besitze eine Cessna, ein bequemes kleines Gerät, mit dem er vorzugsweise abseits der großen Pisten starte und lande, er genieße das als ein Abenteuer, denn es sei ein großartiges Gefühl, vom Erdboden abzuheben, himmelwärts, sagte Setzweyn, da könne er ihn verstehen.