In seinem Essay ›Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland‹ schreibt Heinrich Heine: »Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant ist schwer zu beschreiben. Denn er hatte weder Leben noch Geschichte.« Doch Kants Leben ist mit seiner philosophischen Entwicklung verwoben und verdient unsere Aufmerksamkeit, wenn man die Geschichte der Aufklärung und die Entwicklung der politischen Ereignisse wirklich verstehen will. Der Frankfurter Professor für Philosophie der Neuzeit Marcus Willaschek hat anlässlich des 300. Geburtstags des Philosophen ein beeindruckendes Buch mit dem Titel ›Kant – Die Revolution des Denkens‹ geschrieben. Das Buch ist nach Sachthemen geordnet und umfasst 30 in sich geschlossene Essays durch das gesamte Werk des Königsberger Philosophen. Die einzelnen Kapitel verweisen zwar aufeinander, können aber auch unabhängig voneinander gelesen werden. In jedem Kapitel werden die einzelnen Abschnitte von Kants Leben mit seinem Denken verknüpft. Der Autor möchte mit seinem exzellenten Buch Leserinnen und Leser erreichen, die über nur wenige oder keine Vorkenntnisse der Philosophie verfügen, es ist aber auch für Kenner durchaus von Nutzen. Von DIETER KALTWASSSER
Immanuel Kant wurde am 22. April 1724 in Königsberg geboren. Er stammte aus einfachen Verhältnissen, sein Vater war ein Riemermeister im ostpreußischen Königsberg. Von seiner Mutter erhielt der junge Kant große Aufmerksamkeit und Zuneigung. Sie starb bereits 1737, sein Vater im Jahr 1746. Von 1740 bis 1746 studierte Kant Philosophie, Naturwissenschaft und Mathematik an der Universität Königsberg. Zunächst war er als Hauslehrer tätig, ab 1755 kehrte er an die Königsberger Universität zurück und lehrte dort 40 Jahre lang. 1770 wird er Professor für Metaphysik und Logik. 1781 erscheint die ›Kritik der reinen Vernunft‹, fünf Jahre später die ›Kritik der praktischen Vernunft‹ und 1788 die ›Kritik der Urteilskraft‹. 1797 beendet er seine akademische Lehrtätigkeit; die ›Metaphysik der Sitten‹ erscheint.
Eine wichtige »Unterscheidung Kants innerhalb des Feldes der philosophischen Erkenntnis«, so Willaschek, »[…] ist diejenige zwischen der Philosophie und dem Philosophieren.« Er schärfte seinen Studenten immer wieder ein: Man kann nicht Philosophie, sondern nur Philosophieren lernen. Bei Kant heißt es: »Philosophieren aber lässt sich nur durch Übung und selbsteigenen Gebrauch der Vernunft lernen.«
Für Willaschek ist Kant der »bedeutendste Philosoph der Neuzeit, Die ›Kritik der reinen Vernunft‹ ein Meilenstein der Geistesgeschichte«. Er habe die traditionelle Metaphysik »zermalmt« und eine neue begründet, die Entstehung unseres Planetensystems erklärt und den kategorischen Imperativ formuliert; er war »Wegbereiter des Kosmopolitismus und der modernen Idee der Menschenwürde. Sein Denken hat nicht nur Philosophie und Wissenschaft, sondern auch das deutsche Grundgesetz und die Vereinten Nationen geprägt.« Und weiter heißt es: »In einer Welt, in der Frieden und Demokratie bedroht sind wie schon lange nicht mehr, in der wir unser Verständnis von Natur und Wissenschaft grundsätzlich überdenken und moralische Verantwortung auch für künftige Generationen übernehmen müssen, kann Kants Philosophie uns Orientierung geben.«
Der Autor betont, dass sein Buch keine Heldengeschichte nacherzählen soll, sondern vielmehr zur kritischen Diskussion einlade. Dabei kommen auch die problematischen Seiten in Kants Werk zur Sprache, »seine rassistischen und antisemitischen Äußerungen, seine herabsetzenden Urteile über Frauen und seine moralische Verurteilung der Homosexualität.« Seine »Aussagen müssen zwar in ihrem historischen Kontext betrachtet, aber auf ihre aktuelle Relevanz hin beurteilt werden. Es gebe an ihnen nichts zu beschönigen, »sie sind falsch und fallen hinter Kants eigene Einsichten zurück«. Doch sollten sie »nicht den Blick auf die großartigen Leistungen Kants verstellen und von dem zutiefst humanen Geist ablenken, der sein Werk bestimmt.«
Am 12. Februar 1804 stirbt Immanuel Kant im Beisein einer seiner Schwestern, die Kants Schüler, Freund und Biograf Wasianski zuletzt bei der Krankenpflege unterstützt hatten. Kant habe, so Willaschek, in seinem letzten Lebensjahr »immer mehr an Kraft, aber auch an geistiger Präsenz verloren.« Einiges deute auf eine Altersdemenz hin. In seinen letzten Tagen, so Wasianski, sei der Philosoph aber ganz ruhig und gelassen gewesen.
Zwei Wochen nach seinem Tod ist die feierliche Beisetzung des Philosophen unter Anteilnahme ganz Königsbergs in der Universitäts- und Domkirche der Stadt. Kant hatte zu Lebzeiten seinen Schülern und Freunden untersagt, biografische Notizen von ihm zu veröffentlichen. Doch bereits kurz nach Kants Ableben erscheinen aus diesem Kreis die ersten Biografien über den Philosophen.
Zwei Tage lang haben sich Omri Boehm und Daniel Kehlmann im Mai 2023 zu Gesprächen über Kant in einem Gartenhaus des Ullstein Verlags getroffen und über Kants Leben und Werk gesprochen. Der israelische Philosoph Boehm hat deutsche Wurzeln, wurde 1979 in Haifa geboren und lehrt in New York. Vor zwei Jahren erschien sein preisgekröntes Buch ›Radikaler Universalismus‹, das stark von Ideen Kants inspiriert ist und sich gegen den Partikularismus richtet. Kehlmann, Jahrgang 1975, ist seit seinem Bestseller ›Die Vermessung der Welt‹ einer der berühmtesten deutschen Gegenwartsautoren.
Als er, wie Kehlmann im Vorwort verrät, Boehms Buch ›Radikaler Universalismus‹ las, begegnete ihm ein Kant, der »kein höflicher Wächter der Sittlichkeit, kein Produzent gewundener trockener Sätze, kein staatsfrommer Obrigkeitsanwalt war, sondern ein Denker, vor dessen regelrecht anarchistischer Kompromisslosigkeit kein Stein auf dem anderen blieb. Er war (…) aufregend«.
Über die Sommermonate haben sie die Ergebnisse des Gesprächs in Buchform gebracht. Entstanden ist die äußerst lesenswerte Publikation ›Der bestirnte Himmel über mir – Ein Gespräch über Kant‹, in dem die Dialogpartner versuchen, »Kant aus seinen eigenen historischen Voraussetzungen zu verstehen und zugleich ein Bild davon zu gewinnen, wie er uns dabei helfen kann, weiterzukommen auf jenem langen Weg, an dessen Ende wir hoffen dürfen, das zu sein, für das wir uns in voreiligen Momenten jetzt schon halten, eine Gemeinschaft denkender und freier Menschen.«
Claudia Blöser hat mit ihrem hundertseitigen Buch über Kant eine ausgezeichnete Einführung in sein Werk geschrieben. Die Fragen, mit denen er »alles Interesse der Vernunft« und damit auch der Philosophie zusammenfasst, lassen die Philosophin Claudia Blöser bis heute nicht mehr los: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?« Diese Fragen gehen alle Menschen etwas an, wenn sie über sich und die Welt nachdenken.
Kants Methode ist die Kritik, die auch vor der Vernunft selbst nicht haltmacht. Die Inhalte, über die der Philosoph im Laufe seines Lebens nachgedacht hat, reichen von den Grundlagen der Naturwissenschaften bis zu politischen Idealen wie dem ewigen Frieden. Sein Aufruf zum Selbstdenken hat, schreibt die Philosophin, nichts an Aktualität eingebüßt.« Statt sich darauf zu verlassen, dass andere für uns denken, erklärte Kant das lateinische »Sapere Aude!« in seiner Interpretation zum Leitspruch der Aufklärung: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.«
Einen gut lesbaren, geistreichen und gewitzten Roman mit dem Titel »Der Diener des Philosophen« hat der Philosoph und Politikwissenschaftler Felix Heidenreich über das wohl berühmteste Herr-Knecht-Verhältnis der deutschen Aufklärung verfasst. Der Diener des Philosophen Immanuel Kant ist der ehemalige Soldat Martin Lampe. Kant hält ihn für äußerst einfältig, um nicht zu sagen für einen Trottel. Voller Hinterlist versucht der widerständige Diener, den Meisterdenker vorzuführen und in den Wahn zu treiben. Um Kant Sorgen macht sich nicht uneigennützig sein Freund und früher Biograph Ehregott Wasianski, der ihn vor allem vor einer Heirat bewahren und nach dessen Ableben für seinen Ruhm als bedeutender Denker sorgen will. Ein unsentimentaler Roman und ein empfehlenswertes Buch über die Schatten der Aufklärung.
In ihrem konzisen Buch ›Kants Philosophie‹ konzentrieren sich Gabriele Gava und Achim Vesper auf die drei »Kritiken« und die »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«. Kants Neuansatz in der Philosophie wird aus einer zentralen Idee verständlich gemacht: der Idee, dass nicht nur das menschliche Handeln, sondern alle leitenden menschlichen Weltbezüge »normativ« strukturiert sind. Das Wort normativ kommt bei Kant nicht vor, sondern wurde erst später in der Philosophie gebildet. Doch seine grundlegend neue Einsicht bestehe darin, dass sich die geistigen Fähigkeiten des Menschen nur mittels «der mit ihnen verbundenen normativen Maßstäbe erläutern lassen, nach denen sie richtig oder falsch ausgeführt werden.« Die »Theorie der Normativität des menschlichen Geistes bildet das zentrale Motiv«, aus dem die beiden Autoren Kants Werke der kritischen Periode verständlich machen. Eine unbedingte Leseempfehlung!
Ein guter Einstieg in Kants Werk ist die von Ursula Michels-Wenz besorgte Textauswahl ›Klarsicht mit Kant‹. Die ausgewählten Textpassagen stellen zentrale Gedanken aus seinem umfangreichen Werk vor, welches sich gegen jede Form des Dogmatismus wendet und den Lesern Orientierung zu geben vermag im Umgang mit uns selbst und mit anderen. Hierfür ist ein klarsichtiges Erfassen der Wirklichkeit, so der Königsberger Philosoph, die notwendige Grundlage der Lebensgestaltung; es bewahrt vor Irrwegen und erleichtert den Umgang mit den Menschen. In ihrem instruktiven Vorwort zitiert Ursula Michels-Wenz Hermann Hesse, der im Juli 1920 schrieb: »In Zeiten, wo uns das Leben schwer zu tragen wird, gibt es keine wertvollere Zuflucht als zu den Problemen des abstrakten Denkens, von welchen uns nicht irgendein billiger Trost zufließt, wo uns aber die angestrengte Beschäftigung mit zeitlosen Werten das Herz kühlt und den Geist stärkt.« In Kants Philosophie finden wir diese wertvolle Zuflucht.
Titelangaben
Marcus Willaschek: Kant. Die Revolution des Denkens
München: C.H. Beck Verlag 2023
430 Seiten, 28 Euro
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Omri Boehm / Daniel Kehlmann: Der bestirnte Himmel über mir
Ein Gespräch über Kant
Berlin: Propyläen Verlag 2024
352 Seiten, 26 Euro
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Claudia Blöser: Immanuel Kant. 100 Seiten
Stuttgart: Philipp Reclam jun. Verlag 2024
100 Seiten, 6,99 Euro
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Felix Heidenreich: Der Diener des Philosophen
Göttingen: Wallstein Verlag 2023
149 Seiten, 22 Euro
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Gabriele Gava / Achim Vesper: Kants Philosophie
München: C.H. Beck Verlag 2024
128 Seiten, 12 Euro
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Immanuel Kant: Klarsicht mit Kant
Ausgewählt von Ursula Michels Wenz
Berlin: Insel Verlag 2024
175 Seiten, 11 Euro
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