Jugendbuch | Krystal Sutherland: Es muss ja nicht perfekt sein
Perfekt? Esthers Leben ist so weit davon entfernt, wie man sich das nur vorstellen kann. Ihre Ängste und Probleme sind zahllos. Nein, falsch: Man kann sie zählen – eine Liste mit 49 Ängsten. ANDREA WANNER freut sich an dem verblüffenden Umgang mit dieser Liste.
Ein Mädchen im Rotkäppchenkostüm trifft auf einen Jungen, in den sie in der Grundschule mal verliebt war. Mehr als das. Esther sieht an der Bushaltestelle den Jungen wieder, dem sie es nie verziehen hat, dass er sie versetzt hat. Jonah war der, der ihre Probleme kleiner werden ließ. Nach seinem Verschwinden auf Nimmerwiedersehen ist Vertrauen nichts mehr für Esther. Und jetzt sitzt er da, weinend, offensichtlich verletzt. Und bitte um Hilfe.
Dass dieser Junge sie gleich wieder reinlegt, ist ein wunderbarer Start in eine äußerst schräge Geschichte. Esther ist davon überzeugt, dass ihre Familie mit einem Fluch belegt ist. Die Geschichte stammt von ihrem Großvater, der mehrmals in seinem Leben dem Tod – persönlich – begegnet ist. Dieser Großvater war auch Polizist und beschäftigte sich mit überaus scheußlichen Verbrechen – was er auch in Details an seine Enkel wiedergab.
Dieser Fluch sorgt für mehrere Dinge. Er ist dafür verantwortlich, dass Esthers Vater nach einem Schlaganfall seit sechs Jahren im Keller haust, ihre Mutter immer mehr esoterischen Kram anhäuft, um das Unglück fernzuhalten und ihr Zwillingsbruder Eugene Dunkelheit nicht erträgt und nur bei Licht schlafen kann.
Esther selbst versucht den Tod und alle an der Nase herumzuführen, dadurch, dass sie nie als sie selbst sondern immer nur in einer Rolle auftritt. Dafür kostümiert sie sich als Indiana Jones, Mary Poppins, Wednesday Addams, Amelia Earhart, als Claude Monets Frau mit Sonnenschirm – oder Rotkäppchen.
Dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, bedeutet für Esther, alle Dinge aufzuschreiben, die sie für gefährlich hält: Hummer, Höhlen, Klippen, Motten, enge Räume, Auto fahren, Gewitter … 49 Punkte stehen bereits auf ihrer Liste. Platz 1 ist noch frei: Da soll irgendwann ihre größte, ultimative Angst ihren Platz finden. Um alles andere macht sie einen Bogen. Bis die Liste ausgerechnet in die Hände von Jonah Smallwood fällt. Und er eine ganz andere Idee hat, wie man mit diesen Sachen umzugehen hat.
Die Australierin Krystal Sutherland erzählt in ihrem zweiten Roman eine Geschichte, die stellenweise ins Absurde, Gruselige und Unglaubwürdige abdriftet. Es tut der Geschichte keinen Abbruch. Esther und ihre Ängste, ihr Gefühl, die Welt retten zu müssen, ihr soziopathisches Verhalten einerseits, ihre Verletzlichkeit, ihre Fantasie und auch ihr Mut andererseits machen sie zu einer ungewöhnlichen Heldin, die nicht nur Jonah Smallwood in ihren Bann zieht. Jonah bleibt hartnäckig – obwohl seine eigenen Probleme alles andere als lustig sind.
Ein Zitat des amerikanischen Motivationstrainers Jack Canfield soll Esther dazu bringen, sich auf seinen verwegenen Plan einzulassen, und gemeinsam die Liste der Dinge, die Esther unbedingt vermeiden will, aktiv anzugehen und abzuarbeiten: »Alles, was du begehrst, liegt jenseits der Angst.« Kein einfaches Unterfangen. Auf jeden Fall aber ein lohnendes Leseabenteuer.
Titelangaben
Krystal Sutherland: Es muss ja nicht perfekt sei
(A semi-desinitive list of worst nightmares, 2017)
Aus dem Amerikanischen von Henriette Zeltner
München: cbj 2019
400 Seiten, 15 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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