/

Kein Ausweg

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kein Ausweg

Auf Dauer fällt es schwer, ihm zuzuhören, findest du nicht, Thimbleman?

Schon, ja.

Auch wenn er ja recht hat.

Daß er nur Katastrophen heraufbeschwört, kannst du aber auch nicht behaupten, Ausguck.

Nein, nicht.

Und wenn es nun einmal so ist – was kann man tun?

Die Menschen der ›Moderne‹ verschanzen sich hinter ihren Zahlen. Meinst du das? Solange sie zählen und messen können, fühlen sie sich zu Hause am warmen Kamin.

Die Eliten haben sich in ihren Erzählungen eingemauert. Ein‘ feste Burg, spottete Thimbleman. Was sie als Erdgeschichte ausgeben, ist eine waghalsige Konstruktion, ein Lügengespinst. Millionen und hundert Millionen Jahre, und was ganz vorneweg herausschaut, sind sie selbst – Krone der Schöpfung. So applaudieren sie sich selbst. Welch eingebildetes Pack,

Der Ausguck stand auf, lief einige Schritte auf der Stelle, steigerte das Tempo und hielt einige Minuten lang durch. Wir können eh nichts tun, stieß er keuchend hervor, aller Aufenthalt des Menschen ist vorübergehend.

Rede nicht altklug daher, Ausguck. Wir könnten die Dampfschiffahrt ausbremsen, die Industrialisierung ist ein verhängnisvoller Prozeß, der auf eine Katastrophe hinausläuft.

Das geht uns nichts mehr an, mein Freund. Er zog jetzt die Knie so hoch, daß sein Laufen einen tänzerischen Charakter annahm, die Bewegung war von faszinierender Anmut, der Ausguck atmete wieder regelmäßig und balanciert.

Oh doch geht es uns an, widersprach Thimbleman. Wir müssen heraus aus unseren Luftschlössern, wir müssen auf den Boden der Tatsachen.

Jetzt redest du schon wie ein Politiker. Der Ausguck lachte angestrengt.

Die Geschichte ist eine Geschichte der Katastrophen – der Erde wie des Menschen.

Damit könntest du recht haben. Der Ausguck setzte sich und atmete aus. Sieh nur die Goldgräber. Und sieh die Verhältnisse in der Stadt – eine einzige Katastrophe.

Gewiß, Ausguck. Aber Gramner meint es grundsätzlich, überhaupt, verstehst du? Die Geschichte führe nicht zu zivilisierten Verhältnissen, im Gegenteil, und bestenfalls entstehe zwischen den Katastrophen eine Pause.

Wie bei uns jetzt mit der ›Boston‹ in dieser Ojo de Liebre, weit weg von der geschäftigen Welt, und wir können wegen der Verletzten nicht einmal auf Walfang gehen, sondern lungern tatenlos am Strand herum. Er lachte.

Du sagst es, Ausguck.

Singsang, unangenehm monoton und störend: Und nun sitz ich hier im Süden/ so toll ist es hier auch nicht/ und eine viel zu heiße Sonne/ knallt mir ins Gesicht.

Ich erinnere mich, Thimbleman. Gramner erzählt gelegentlich vom Zweistromland und dessen uralter Kultur. Der Planet Tiamat, so sei dort überliefert, sei nach einer Kollision aus seiner Umlaufbahn geschleudert worden und habe sich erneut im Sonnensystem stabilisieren müssen. Auf diese Weise, sagt Gramner, sei die Erde entstanden, und das alles erstrecke sich keineswegs über Millionen Jahre, sondern über etwa zwanzigtausend Jahre mit katastrophalen Einbrüchen wie der erwähnten Kollision, anhaltender Verdunkelung der Sonne und einer verheerenden globalen Sintflut. Den Sumerern sei sogar Pluto bekannt gewesen, der von der astronomischen Wissenschaft der ›Moderne‹ erst im zwanzigsten Jahrhundert entdeckt worden sei. Woher wisse Gramner das?

Viele Völker, sagt Gramner, würden ähnliche Erzählungen kennen. Die Hopi, sagt er, wüßten von drei vorausgegangenen Welten. Die erste sei durch Feuer vernichtet worden, die zweite durch eine Verschiebung der Erdachse, die dritte durch eine gewaltige Flut.

Wasser und Feuer, Ausguck, das verstehe ich gut. Doch eine Verschiebung der Erdachse? Wie wußten die Hopi von einer Erdachse? In der ›Moderne‹ rangieren sie unter primitive Völker. Wenn du mich fragst – die ›Moderne‹ ist auf Lug und Trug errichtet, und was sie unter die Leute bringt, stimmt weder hinten noch vorne.

Was geht sie uns an, Thimbleman, wir machen uns keinen Kopf, wir werden diese ›Moderne‹ nicht erleben, wir sortieren sie unter ferne Zukunft.

Bereits ihr Name ist Täuschung, Ausguck.

Was regst du dich auf, Thimbleman?

Weder ist sie modern noch ist sie altmodisch, sie ist ein Irrweg.

Den wir beschreiten?

Genau.

Mit der Dampfschiffahrt?

So ist es. Erfolgsgeschichten gibt es nicht, Ausguck, weder gestern noch heute noch morgen. Geschichte ist eine Abfolge katastrophaler Ereignisse, das ist der Boden der Tatsachen, und es ist eine Illusion, sich über die Natur hinwegsetzen zu wollen, sie auszubeuten oder umzugestalten.

Die Industrialisierung, sage Gramner, wird die Ressourcen des Planeten im einundzwanzigsten Jahrhundert verbraucht haben, still, heimlich, unaufhaltsam, und ein gigantischer medialer Komplex täusche eine Zeitlang darüber hinweg, daß die Katastrophe längst eingesetzt habe.

Seit dem Übergang zur Dampfschiffahrt, sagte Thimbleman.

Der ›Moderne‹ gehe es einzig noch darum, die Finanzströme fließen zu lassen, sagte der Ausguck. Solange der Rubel rollt, bleibe das Leben. Abenteuerliche Beträge würden in den Gesundheitssektor investiert, der anstelle des Lebens jedoch zumeist nur das Sterben verlängere, der Mensch wisse weder ein noch aus.

Künstliche Intelligenz, selbstfahrende PKW – ein Tanz um das Goldene Kalb.

Das, sage Gramner, sei nicht weniger blind als der Rausch der Goldgräberzeit. Nichts habe sich geändert, sagte der Ausguck, nahm einige Schritte Anlauf und schlug einen Salto.

Thimbleman lachte und ging schwimmen.

|WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Blusenwunder

Nächster Artikel

Eine Schlange mit bloßen Händen fangen

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Jenseits des Koordinatensystems

Kurzprosa | Anette Lang: Things that I won´t do for love Anette Lang hat mit Things that I won´t do for love im Leipziger Birnbaum Verlag einen Band mit sechs erstaunlichen Kurzgeschichten vorgelegt, in denen die üblichen Themen von Liebe und Glück aus einer eigentümlich neuen Perspektive erzählt werden. Ein Leseversuch von HUBERT HOLZMANN

Vorsorge

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Vorsorge

Weshalb niemand über Vorsorge redet, Tilman, das verstehe, wer will.

Die aktuelle Debatte liegt falsch?

Sie reden darüber, die Extreme auszubremsen, sie wollen den CO2-Ausstoß begrenzen und streiten über Zahlen.

Das wäre keine Vorsorge?

Nein, das ist der Versuch, eine rasante Entwicklung zu entschleunigen, ohne die zugrundeliegenden irrigen Abläufe anzutasten.

Blutrausch

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Blutrausch

Die zivilisierte Welt sei auf dem Rückzug, ultimativ, sagte Annika und schenkte Tee ein, Yhin Zhen, sie hatte das Drachenservice aufgedeckt, die Temperaturen waren mild.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Ob es nicht stets dasselbe sei, fragte er, die einen würden in Luxus oder wenigstens ohne finanzielle Sorgen leben, die anderen, bei weitem die Mehrheit, seien barbarischen Zuständen ausgeliefert, es würden Kriege geführt, zu Millionen irrten die Menschen auf dem Planeten umher, und wer es sich leisten könne, suche in friedfertigen Regionen unterzukommen.

Er nahm einen Löffel Schlagsahne und strich sie sorgfältig auf seiner Pflaumenschnitte glatt.

Eldin

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Eldin

›Neuzeit‹. Er könnte sich aufregen. Welch eingebildetes Pack. Oder ›Moderne‹. So nannten sie sich auch. Er wußte das von Gramner. Nicht daß es ihn sonderlich interessiert hätte, aber es war immer gut, jemanden wie Gramner an Bord zu haben, zumindest konnte es nicht schaden, denn Walfang war harte Arbeit, die Mannschaft war unterhalten.

Johanna

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Johanna

Manches, sagte LaBelle, hast du ständig vor Augen und verstehst es dein Leben lang nicht.

Daß Labelle das Wort ergriff! Thimbleman staunte. Das nächtliche Lagerfeuer in der Ojo de Liebre löste die Zungen, und dafür sei es gut, überlegte er, beim Walfang eine Pause einzulegen.

Er stamme aus Frankreich, sagte LaBelle, in Rouen sei er aufgewachsen, und was ihm sein Leben lang in Erinnerung bleiben werde, sei das Gedenken an die heilige Johanna.

Heilig?, fragte Harmat.

Im Volk gelte sie als der Engel Frankreichs, sagte LaBelle, fünfzehntes Jahrhundert, sie habe das Land von der englischen Besatzung befreit.