Sieg der Technik über die Story

Film | Im Kino: Gemini Man

Für Liebhaber des Action-Genres gibt es einigen Anreiz, dem Auftragskiller Henry beim Kampf gegen die jüngere Version von sich selbst zuzusehen. Was ihm jedoch mehr als sein digitalisiertes »Ich« den Rang ablaufen dürfte, ist die neue Filmtechnik von Oscar-Preisträger Ang Lee.
ANNA NOAH fragt sich, wie viel Spaß Filme mit der neuen Bildrate wirklich machen.

Henry Brogan

Henry Brogan (Will Smith), ein 51-jähriger Auftragskiller, will nach 72 Aufträgen in den Ruhestand gehen.

Gemini Man›Gemini Man‹ beginnt mit seinem letztem Auftrag. Nachdem Henry sich entschieden hat, sich zurückzuziehen, wird Junior, ein genetischer Klon, der 25 Jahre zuvor von Henrys ehemaligen Kommandanten aus seiner DNA hergestellt wurde, auf ihn angesetzt. Junior vereint alle Stärken Henrys, besitzt aber aufgrund fehlender Erfahrungen keines seiner mentalen Traumata. Das macht ihn für die Regierung zu einem perfekten Auftragskiller.

Henry sieht sich zur Flucht gezwungen, die ihn mitsamt seinem Freund Baron (Benedict Wong) und einer neuen Komplizin Danny (Mary Elizabeth Winstead) zu vielen Schauplätzen der Welt führt.

Der Regisseur setzt auf Technik

Bei den gewöhnunsgbedürftigen Details, die die 120-Frames-pro-Sekunde-Technologie des Films vorschreibt, ist es für den Betrachter unmöglich, zu ignorieren, wie alarmierend Junior als Bedrohung ist. Allerdings wurde das für die deutschen Zuschauer schon abgeschwächt, da die Kinos nur bis 60-Frames-pro-Sekunde ausgelegt sind. Trotzdem wirkt es.

Die Technologie verstärkt das Hauptevent, indem der Zuschauer kopfüber in einen explosiven Actionfilm geworfen wiwrd. Von Anfang an drückt sich eine gewisse Leidenschaft für visuelle Details auf – von beeindruckend bis hin zur Ablenkung. Integrale Bestandteile des Films sind: Einzelne Stoppel auf Will Smiths Kinn zählen zu können, der spezifischen Flugbahn einer Fliege zu folgen, bevor sie erschlagen wird oder die haarscharfen fünf Nüsse im Cracker zu erkennen, den die Hauptdarstellerin nach einer Schlägerei (!) isst. Doch so schön das alles anzusehen ist, für den Zuschauer wird es extrem erschwert, sich auf den Filminhalt zu konzentrieren, an dessen Tiefe ärgerlicherweise gespart wurde.

In der ersten Verfolgungsjagd zwischen Smith und seinem Klon in der bunten Kulisse von Cartagena wird die Bandbreite der neuen Technik besonders deutlich. Die Kamera richtet die Bewegung nicht auf Atmosphäre, sondern auf Action aus. Somit ergeben sich abwechselnd schwindelerregende POV-Aufnahmen beider Motorräder, die durchaus für den Moment ihren Reiz haben.

Spannungsabfall

Nach dem ersten Drittel gibt es zu viele Gespräche, die den Film in die Länge ziehen, und für die Story eher hinderlich sind. Ob man sich als tatsächlich lebender, denkender Mensch in der Form ausdrückt, ist ebenfalls zu bezweifeln. Alles scheint im Dienst der filmischen Ästhetik zu stehen. Henrys Freundschaften wirken austauschbar – der Zuschauer sieht, wie er kurz um einen anderen Mitarbeiter trauert, und sich nur Minuten später Rat von einem wohlhabenden Mann auf einer Yacht holt. Ein Bikinimädchen darf natürlich nicht fehlen.

Irgendwann taucht Baron als alter Freund auf und wird zum Mittelpunkt für Slapstick und erneute Film-Ästhetik, indem er eine Zigarre während eines Fußballspiels raucht. Dies dient vermutlich keinem anderen Zweck, als zu zeigen, wie gut Rauch aussieht, wenn er mit der neuen Framerate aufgenommen wird.

Henrys Komplizin, Mary Elizabeth Winstead behauptet sich als weibliches Gegenstück, bleibt aber im Großen und Ganzen blass. Und das, obwohl sie einigen in den Allerwertesten treten darf.

›Gemini Man‹ ist 1997 aus einer bizarren Idee entstanden, doch erst 2017 hat sich Regisseur Ang Lee der Thematik angenommen. Das ist nicht verwunderlich, denn Lees Filme haben verwandte Themen: die Entfremdung des Einzelnen, die Natur sowie deren Schutz als auch die Herausforderung des digitalen Filmemachens. ›Gemini Man‹ scheint von allem etwas zu haben. Trotzdem bleibt die Aussage des Films über seinen technologischen Einfluss hinaus undurchdringlich.

Und das, obwohl Henrys empathische Kraft enorm ist. Es ist nahezu tragisch, dass sich ein so vielversprechender ethischer Konflikt wie das Klonen eines Menschen mit der Film-Technik in Konkurrenz befindet.

Wenig Botschaft

Hier wird ein Film präsentiert, der die Ziellinie bereits im ersten Drittel überschritten hat. Während Ang Lees Frame-Rate etwas ist, das der Zuschauer genießen kann, ist die Story, die hinter den atemberaubenden Bildern steckt, ein wenig veraltet. Es ist eine Geschichte, die inhaltlich zu Beginn ihrer Entstehung sehr viel besser funktioniert hätte. So gibt es lediglich einige beeindruckende Momente strahlender Filmkunst mit sehr wenig Botschaft dahinter. Der Film als abendfüllende Version rangiert unter »Will Smiths Gesicht in Nahaufnahme«. Und das wirkt auf Dauer ermüdend.

Der Glanz lässt nach, und die Rüstung wird rostig.

| ANNA NOAH

Titelangaben
Gemini Man
Regie: Ang Lee
Drehbuch: David Benioff, Billy Ray und Darren Lemke
Darsteller/Cast:
Will Smith – Henry Brogan / Junior
Mary Elisabeth Winstead – Danny Zakarweski
Benedict Wong – Baron
u.v.a.
Kamera: Tim Squyres
Musik: Lorne Balfe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Zikade in einer grauen Welt

Nächster Artikel

If I Think Of Love, I Think Of You: New Release Reviews

Weitere Artikel der Kategorie »Film«

Kommunikative Basis Fehlanzeige

Film | Japan-Filmfest Hamburg: ›Tokyo/Lovers‹, Japan (2013) ›Tokyo/Lovers‹ ist ein Film, der überwiegend mit sehr ruhigen Szenen arbeitet, die Szenen aber gern unvermittelt nacheinander setzt; dieser Kontrast verleiht dem Film einen angenehm individuellen Effekt. Zeitliche Ebenen werden gelegentlich gegeneinander verschoben. Wir sehen eine zart eröffnende Brettspielszene zwischen einer Englischlehrerin und einem noch leicht an der Schulter verletzten Berufstänzer. Von WOLF SENFF

Durchgeknallte Freundeskreise

Film | TV: Tatort – Todesspiel (SWR), 19. Januar Eine Clique um die Dreißig, Konstanzer Boheme, bunt zusammengewürfelt; wer auf sich hält, ist dabei: Vom steinreichen Privatier über Boutiquenbesitzerin und Hedgefondsmanager zum Superstarwettbewerbszweitplatzierten bis zur traumatisierten, abgelegten Ex in der Klinik – sortiert von einer Kommissarin Blum (Eva Mattes), die zielstrebig und unbeirrbar ermittelt wie eine, Kompliment, Miss Marple at her best. Auf so tragfähigem Fundament wurde TATORT seit gefühlten Ewigkeiten nicht gedreht. Man vergisst zu schnell. Von WOLF SENFF

Weder Sozialkunde noch sonst welche Brille

Film | Im TV: ›TATORT‹ – Deckname Kidon (ORF), 4. Januar 2015 Herr Dr. Bansari fällt auf einen Mercedes, neunziger Jahre, neunhunderttausend Kilometer gelaufen, und löst massive Verwicklungen aus. Wer steckt dahinter? Ist’s eine Spezialeinheit des Mossad? Wir schätzen den ›TATORT‹ aus Wien, der uns die bedrohlich weite Welt aufblättert. Von WOLF SENFF

Der junge Mann und der Suff

Film | Im Kino: The Rum Diary Wenn die Namen Johnny Depp und Hunter S. Thompson in einem Satz fallen, denkt die Mehrzahl der Filmfreunde vermutlich sofort an Terry Gilliams schräges Roadmovie ›Fear and Loathing in Las Vegas‹. Dass den stilbildenden Journalisten und Schriftsteller Thompson bis zu seinem Suizid 2005 auch eine enge Freundschaft mit Depp verband, wissen dagegen wohl die wenigsten. Nicht zuletzt diese Freundschaft dürfte einer der Gründe gewesen sein, aus denen sich Johnny Depp so stark für die Verfilmung von Thompsons lange verschollen geglaubtem Roman-Erstling ›The Rum Diary‹ einsetzte. Und so verwundert es kaum, dass Depp neben

Krass kann hilfreich sein

Film | Im TV: ›TATORT‹ – Das verkaufte Lächeln (BR) 28. Dezember, 20.15 Uhr Kinder sind ein heikles Thema. Enorm vorbelastet, Kinderschänder und so, aber manche Themen werden eben überstrapaziert. Kinder kommen ebenfalls gut im Drehbuch, wenn das ausgewachsene Publikum gerührt werden soll, gab’s alles, hatten wir neulich erst, so mancher Sender barmt um sein Profil zwischen Qualität und Quote. Von WOLF SENFF