/

Kulturwandel

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kulturwandel

Von der Tragweite des Wandels machen sie sich keine Vorstellung, sagt Gramner. Wenn sie überhaupt eine Chance nutzen wollen, die Katastrophe abzuwenden, müssen sie ihr Leben umstellen, sagt er.

Was soll das heißen, daß sie ihr Leben umstellen, Thimbleman, was meint er damit. Manchmal verstehe ich Gramner nicht.

Wie solltest du. Er redet über eine Zukunft, die dir und mir nicht bekannt ist.

Die Moderne, ich weiß.

Das sei die neue Zeit, sagt Gramner und nennt sie einen Etikettenschwindel. Thimbleman lächelte. Vor uns lägen knapp zwei Jahrhunderte der Industrialisierung, sagt Gramner, der Mensch werde seine räuberische Fratze hervorkehren, er beute die Schätze des Planeten aus und setze seine eigene Existenz aufs Spiel.

Die neue Zeit beginne mit den Goldgräbern in Frisco?

Sie beginne mit den Goldgräbern in Frisco, Ausguck, und zur gleichen Zeit werde die Schiffahrt umgewälzt vom Segel zum Motorbetrieb. Von jetzt an würden Gier und Maßlosigkeit den Alltag definieren und sich über den Planeten ausbreiten.

Der Mensch muß also nicht allein den Temperaturanstieg reduzieren, die Verschmutzung des Planeten mindern, den Erhalt der  Grundnahrungsmittel sichern, sondern – Gramner richtig verstanden – er muß auch seinen Lebenswandel, seine Kultur grundlegend ändern.

Das wird am schwierigsten sein, Ausguck.

Er wird das nicht auf die Reihe bekommen.

Er wird das nicht auf die Reihe bekommen, das ist sicher.

Der Ausguck lachte, stand auf, nahm Anlauf, schlug einen Salto und gleich noch einen; er hielt inne, blickte nachdenklich hinaus auf die Lagune und sah Fluke und Blas einzelner Wale. Einige Minuten lang herrschte Schweigen.

Thimbleman lag ausgestreckt im warmen Sand und hielt die Augen geschlossen. Das Licht der Sonne war angenehm mild, diese Tage der Muße ließen sich gut ertragen, es war eine Auszeit.

Stimme, unterbrechend: Ich habe Konstanze gerade vor wenigen Wochen erst kennengelernt, in drei bis vier Wochen lernt man einen Menschen nicht richtig kennen, aber ich merke bei ihr einfach, daß sie wie auch ich ebenfalls für diesen Sport brennt und daß sie angestachelt ist, zu sehen, wo ihre Grenze liegt, sie möchte Rekorde laufen, sie möchte Bestzeiten laufen, sie möchte besser werden. Das ist, glaube ich, eine Motivation, die tief in ihr ruht, und sie ist ein super ehrgeiziger Mensch, der sich im Sport alles unterordnet, sie ist sehr professionell für ihr Alter, was die Herangehensweise an ihr Training betrifft, und ich weiß jetzt nicht, wie sie trainiert und was sie trainiert, aber so wie ich sie auf Wettkämpfen kennengelernt habe, gibt es bei ihr nur einen Weg, und das ist das, daß man den Sport optimal betreiben muß, wenn man etwas Großes erreichen möchte, und dazu kann man nur sagen, daß sie eine unheimlich talentierte Läuferin ist, und ich glaube einfach, auch versucht, mit sehr, sehr hartem Training und sehr viel Fleiß das Optimale zu erreichen.

Er muß seine Kultur grundlegend ändern, fragte der Ausguck.

Du erinnerst dich an die Sandmalereien von Termoth?

Ich sah ihn ein-, zweimal am Strand damit beschäftigt.

Gut, Ausguck. Das ist hohe Kunst der Navajo. Er ist ein bedeutender Künstler, seine Bilder sind unschätzbare Meisterwerke.

Ich weiß. Doch nach zwei Tagen rafft sie der Wind dahin.

So ist es gemeint, Ausguck, jedenfalls erklärt Gramner das so.  Vergänglichkeit, sagt er, sei alltäglich im Leben der Navajo, und niemand rege sich auf.

Moment, Thimbleman – daß auch das Leben vergeht wie ein Windhauch, beschäftigt sie nicht?

Es vergeht wie Termoths Sandmalereien, verstehst du?

So gesehen, Thimbleman – nein, ich glaube eher nicht, daß die Moderne ihr Leben und ihre Kultur wird umstellen können. Diese Menschen fürchten nichts so sehr wie die Vergänglichkeit, sie flüchten sich in Wolkenkuckucksheime, wo sie die endlosen Gewinner sind, ihre Exponenten möchten sich in den Geschichtsbüchern verewigen, sie führen ein Buch ihrer absurdesten Rekorde, sie suchen nach Exoplaneten, sie rüsten für eine Marsexpedition, sie feiern sich mit den größten Events, den buntesten Spektakeln, ein unübertroffener Hype, nie dagewesen, sie entwickeln die tödlichsten Waffen, sie führen vernichtende Kriege, sie rufen das Anthropozän aus. Aufgeben? Ihre Olympiaden, ihre Fußballturniere, ihre No Filter Tour, ihre Oscar-Verleihungen, ihre Documenta, ihren Berlinale-Trubel – all das aufgeben?

Stimme: Nicht umsonst ist Konstanze die Nummer vier in der Welt, sie hat die idealen Maße für eine Mittelstrecklerin und auch das passende Gewicht dazu – manche reden von Magersucht. Das ist von klein auf so bei ihr gewesen: lange Beine, wenig Gewicht, große Ausdauer, sie ist besessen vom Laufen, besessen davon, zu den besten zu gehören.

Das glaubst du selbst nicht, Thimbleman, daß sie das aufgeben, das ist nicht dein Ernst, nein, keinesfalls, den Teufel werden sie tun.

So spricht auch Gramner. Sie seien überfordert, sagt er. Daß sie organisieren, planen, ihr gemeinsames Geschick in die eigenen Hände nehmen, sagt er, sei von ihnen zu viel verlangt, deshalb würden eben die sich wandelnden Umstände das Geschehen gestalten – ungenießbare Nahrungsmittel, Hungersnöte, Naturkatastrophen, Überflutungen, verseuchte Luft, verschmutzte Gewässer – eine Aufzählung, die sich ad infinitum fortsetzen ließe. Sie können nicht umgehen mit den Früchten und Schätzen der Erde.

Die Moderne sei nicht zu beneiden, und was darauf folgt, Thimbleman, das traue sich nicht einmal Gramner zu sagen. Wer ihnen erklärt, daß ihre Lage ausweglos ist, zieht sich ihren Haß zu.

Möchtest du ihnen lieber das Blaue vom Himmel herab lügen, sie über die Zustände täuschen? Nein, Ausguck, nur wer den Schrecknissen furchtlos entgegentritt, wird sie erkennen.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

The Practice Of Love And Other Tall Tales: New Release Reviews

Nächster Artikel

Handke, Stücke, Songs

Weitere Artikel der Kategorie »Prosa«

Hui-neng

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Hui-neng

Diese Dinge liegen uns fern, sagte Termoth, das Reden vom Sechsten Patriarchen klinge wie eine Erzählung aus einer stillstehenden Zeit, habe nicht Gramner ihn kürzlich erwähnt.

Als ob es das gäbe, sagte Harmat, eine stillstehende Zeit.

Kaum zu glauben, sagte Thimbleman.

Auch hier in der Ojo de Liebre, versicherte dagegen Bildoon, stehe die Zeit still

Kulturen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kulturen

Von einem anderen Stern, sagte Thimbleman.

Der Ausguck nickte. Ramessiden, fragte er, Ramses IX.? Er hatte keine Idee. Aber der Neue konnte fesselnd erzählen, entlegene Regionen weckten die Neugierde, da hörten sie gern zu an den friedlichen Abenden, war diese Lagune doch selbst eine gottverlassene Region am äußersten Rand einer Wüste, welche sich östlich bis hinein nach Texas erstreckte. Und nein, dem Grauwal nachzusetzen, das war noch mindestens für einige Tage kein Thema, es ließ sich aushalten.

Sprachlos

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Sprachlos

Die Zustände seien unbeschreiblich. Farb lächelte.

Ihr fehlten die Worte, sagte Annika.

Erforderlich sei eine Wissenschaft des Zusammenbruchs, spottete Wette, in der die Stadien dieser Abläufe dargestellt würden und ebenso die Bedingungen für eine Eskalation, möglichst stufenweise, ähnlich der Richterskala, die vor kurzem für Erdbeben galt.

Karttinger 4

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Karttinger 4

Als die Karttinger Nahstoll in seiner Klause zwischen Ahrensburg und Rahlstedt besuchte, unangekündigt besuchte, das brachte ihn auf, schilderte sie ihm, wie in der Vendée das Land, ein weitläufiges Flußdelta, dem Meer abgetrotzt worden sei, das Kanalsystem sei weitläufig erhalten und gehöre ins Ressort Denkmalpflege,  der Sumpf sei trockengelegt, die Hautevolee aus der Hauptstadt habe sich dort eingenistet, sie habe Bücher gelesen, Filme gesehen, erzählte ihm von der Bartholomäusnacht und den Feldzügen gegen die Hugenotten, als hätte er das nicht selbst gewußt, er fand das aufdringlich, doch ihre Stimme schmeichelte seinen Ohren, vom Aufbegehren der Royalisten gegen die Jakobiner, die Vendée sei immer schon widerständig gewesen, auch dieser Tage im Kampf gegen die Rentenreform, doch die Unruhen nähmen überhand.

Miami

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Miami

Miami, USA, wir waren in Miami, wann war das. Tilman erinnerte sich. Das dürfte drei, auch vier Jahrzehnte her sein, sagte er, Rucksacktouristen, sagte er, die Zeiten waren anders, wir waren zu viert, irrten ziellos vom Flughafen in Richtung Stadt, es wurde Nacht und wir rollten Schlafsäcke auf einem weitläufigen Rasen aus, Gelände noch des Flughafens, weit waren wir nicht gelangt zu Fuß, wir schliefen drei, vier Stunden, bis wir vom grellen Scheinwerfer einer Polizeipatrouille geweckt wurden, freundlich aber bestimmt, dies sei kein Platz zum Übernachten, außerdem lebten hier Schlangen, das sei nicht ungefährlich, und wir sollten zusehen, in die Stadt zu kommen.