//

Hochgeschwindigkeit

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Hochleistung

Das ist es, sagte Tilman, streckte die Beine lang und saß in diesem Sessel dennoch unbequem, er mußte sich in den nächsten Tagen nach einer verträglichen Sitzgelegenheit umtun, höchste Eisenbahn, weshalb findet sich für die einfachen Dinge stets so mühsam eine Lösung, er rückte ein Stück näher an den Couchtisch.

Farb tat sich einen Löffel Schlagsahne auf.

Annika warf einen Blick nach dem Gohliser Schlößchen.

Zeit, daß wir umdenken, sagte Tilman.

Annika gähnte und wandte sich ihrer Zeitschrift zu.

Wir sind eine Hochleistungsgesellschaft, stimmt’s?

Das ist nichts Neues, Tilman.

Höchstleistung in allen Bereichen.

Du sagst es.

Ein Tumor zum Beispiel erbringt Höchstleistung, er wächst in einem Organ heran, er besetzt den Regiestuhl, steuert Abläufe um und breitet sich aus, er wuchert und greift auf andere Bereiche über, das ist seine Art zu leben, er kennt es nicht besser, er will erfolgreich sein.

Ein Favorit fürs Treppchen?

Für Gold, aber sicher. Ein Tumor ist prall, voll satter Lebenskraft, er behält Oberhand gegen das Immunsystem, diesen starken, vielfach bewährten Schutzwall, es geht auf Leben und Tod, ein David gegen Goliath, ein Kampf, den David, wenngleich er Rückschläge in Kauf nehmen muß, in den meisten Fällen gewinnt, der winzige Tumor bringt den scheinbar übermächtigen Gegner triumphierend zu Fall. Wir leben, ich sagte es, Annika, in einer Hochleistungsgesellschaft.

Hochleistung, wohin du auch siehst, sagte Annika, blickte auf und lächelte, was treibt uns an.

Heuschreckenschwärme in Afrika wie nie zuvor, Überflutungen und Feuersbrünste in Australien, bald darauf wird vor einem Zyklon ›Ilsa‹ gewarnt, toxisch verschmutzte Luft im Norden Thailands, Dürre in Norditalien und Frankreich, verheerende Flammenwände in Kalifornien, in Sibirien tauen die Permafrostböden, Debakel ohne Ende ergießen sich über die Zivilisation, ist das das Anthropozän, auf Kamtschatka bricht ein Vulkan aus, über China wütet ein Sandsturm, all das in nicht erlebten Dimensionen, Hochleistung eben, eine Klasse für sich, eine Wettbewerbsgesellschaft, Anthropozän wir grüßen dich, die Katastrophen übertrumpfen einander, die Götter schließen Wetten ab.

Wachstum, spottete Farb, nicht innehaltendes Wachstum, dämonische Kräfte, und schenkte sich Tee, Yin Zhen, nach, aufsehenerregende Spitzenleistungen der Natur.

Rigoros und von Menschenhand herbeigeführt, sagte Tilman, ein Wachstum, unter dem die überkommene natürliche Harmonie wie ein Kartenhaus einstürzt.

Hochleistung als Brandbeschleuniger?

Du sagst es.

Tilman lehnte sich zurück.

Umdenken ist angesagt, wiederholte er, komplettes Umdenken, die Narrative der Industriegesellschaft sind alt und verbraucht, sie sind trügerisch geworden, der Mensch hat vernichtende Kräfte heraufbeschworen, die sich gegen ihn wenden.

Annika lachte. Sie spielen zum Tanz auf, als hätten sie vom Menschen gelernt, sagte sie, sie schlagen brutal und erbarmungslos zu, sie haben vom Menschen gelernt – wie du mir, so ich dir, so lautet ihr Motto, einen Gewinner kann es nicht geben, die Tumore werden mitsamt ihren Opfern zu Grabe getragen, wir müssen heraus aus dieser Dynamik, sie ist grundlegend falsch, die neuen Narrative entstehen, sie lauten anders, das wäre Aufgabe von Politik, sie zu erzählen.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Für ein Leben in Selbstbestimmung und Freiheit

Nächster Artikel

Wer war’s?

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Tambora

Textfeld | Wolf Senff: Tambora Nein, nicht ich, sagte der Ausguck, ich war nicht dabei. Thimbleman lachte. Du warst noch gar nicht auf der Welt, stimmt’s? Meine Eltern erzählten davon. Sie sagen, es sei schrecklich gewesen. Ich weiß, Gramner erwähnte den Ausbruch. Das Ende der Welt, sagt Gramner. Der Tambora befindet sich auf Sumbawa, einer Insel des Sundabogens östlich von Java. Weit, weit weg von unserer idyllischen Lagune, sagte der Ausguck Endlos weit. Und dennoch – ein nie dagewesener Ausbruch zu Beginn unseres Jahrhunderts, sagt er, folgenschwer wie der des Krakatau, als schon das Jahrhundert zu Ende ging, Jahrzehnte nach

»Surrealism to me is reality«

Kurzprosa | John Lennon: In seiner eigenen Schreibe (Zum 30. Todestag) Skurrile Non-Sense-Texte, anspielungsreiche Gedichte, groteske Comedy – John Lennons In seiner eigener Schreibe ist eine Sammlung des Andersartigen, Herausstechenden, manchmal durchaus Provozierenden. Auch noch nach fast 50 Jahren. Von HUBERT HOLZMANN

Irrfahrten

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Irrfahrten

Die Odyssee unserer Tage, sagte Tilman, spiele sich nicht an der Oberfläche des Planeten ab, nicht auf den Meeren und Inseln wie einst.

Kein Ausweg

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kein Ausweg Auf Dauer fällt es schwer, ihm zuzuhören, findest du nicht, Thimbleman? Schon, ja. Auch wenn er ja recht hat. Daß er nur Katastrophen heraufbeschwört, kannst du aber auch nicht behaupten, Ausguck. Nein, nicht. Und wenn es nun einmal so ist – was kann man tun?