Textfeld | Wolf Senff: Angeschlagen
Das Leben gehe an ihnen vorbei, klagen sie, sagte der Ausguck.
Da kannst du von Glück reden, daß du unversehrt bist.
Habe ich mich beschwert?
Nicht daß ich wüßte.
Der Ausguck stand auf und machte einen Handstand, dann lief er zum Wasser.
Du gehst mir aufs Gemüt mit deiner ständigen Turnerei, rief ihm Thimbleman nach. Er kann nicht stillsitzen, dachte er bei sich, ein Zappelphilipp, ADHS-Syndrom, ein Kandidat für Ritalin, und schmunzelte. Seit wann pflegte er an das Grauen des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu erinnern?
Der Ausguck schlug einen Salto und lachte. Das sei Fitneßtraining, rief er. Gramner sagt, die Moderne werde einst Fitneßstudios betreiben, um die Muskulatur zu trainieren und den inneren Schweinehund zu überwinden.
Stimme, störend: Es lebe der Sport/ er ist gesund und macht uns hart/ er gibt uns Kraft er gibt uns Schwung/ er ist beliebt bei Alt und Jung.
Die Menschen würden nicht länger auf Walfang fahren, rief Thimbleman, sie hätten viel Zeit übrig und wüßten wenig Gutes damit anzufangen.
Du jammerst lauter als unsere Pflegefälle, spottete der Ausguck, die ungeduldig darauf warten, daß ihnen die Blessuren vom Kampf mit dem Teufelsfisch endlich ausheilen.
Sie heulen herum, ja, wegen ihrer Wehwehchen. Aus jeder Mücke wird ein Elefant. Hast du hingehört, was sie sagen? Was, Ausguck, was meinen sie damit, das Leben gehe an ihnen vorbei? Wie erklären wir das? Beweist eine verspannte Schultermuskulatur denn nicht, daß das Leben unmittelbar und schmerzhaft zugegen ist?
Dem Ausguck mißglückte soeben ein Handstandüberschlag, er war im Sand gelandet, rappelte sich wieder auf und setzte an, es ein zweites Mal zu versuchen.
Du hast völlig recht, rief er Thimbleman zu, sie stehen mitten im Leben, die Schmerzen sind der Beweis. Weshalb also plärren sie? Dein Einsatz, Thimbleman!
Woher hast du all diese Turnerei, Ausguck? Wie sagst du dazu? Fitneß? Ich habe keine Ahnung, wofür das gut sein soll. Du wirst dir noch die Beine brechen, und ich werde Mühe haben, dich zurück zur ›Boston‹ zu bringen. Da kannst dich dann gleich für die Paralympics registrieren lassen, wo die Opfer der Moderne um die Wette laufen.
Der Ausguck lachte entspannt und schlug einen Salto. Du hast nicht erklärt, sagte er, weshalb unsere Rekonvaleszenten meinen, das Leben gehe an ihnen vorbei.
Stimme, störend: Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken/ der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken/ die Mannschaft lauter meineidige Halunken.
Du bist hartnäckig, Ausguck. Woher soll ich das wissen? Frag sie selbst. Sie fühlen sich im Abseits, sagen sie. Das Leben zeige ihnen die rote Karte, sagen sie.
Sind das nicht wieder leere Sprüche, Thimbleman?
Du gehst mir aufs Gemüt, Ausguck.
Du wiederholst dich. Was, meinst du, würde Gramner antworten?
Gramner? Gramner würde sie auslachen.
Sicher?
Das Gegenteil sei der Fall, würde er sagen.
Das Gegenteil? Wie meint er das?
Du fragst mir Löcher in den Bauch, Ausguck. Was ist los mit dir? Geh, mach deinen Handstand.
Alles zu seiner Zeit, Thimbleman. Dein Einsatz!
Es ist schwierig, mein Freund. Wenn sie dem Wal hinterher sind, vergessen sie alles andere, es ist ein Rausch, und natürlich könnte man sagen, sie seien mittendrin, mitten im Leben. Aber sie wissen das nicht, sie denken nicht daran, ihnen bleibt keine Zeit dafür. Sind sie jedoch zum Nichtstun verurteilt wie jetzt unsere Verletzten, dann beginnt es in ihren Köpfen zu rumoren, sie fühlen sich vom Leben betrogen, im Stich gelassen, vom Platz gestellt, verstehst du, sie sind ernüchtert und ahnen plötzlich, was Leben ist, unversehens sind Sehnsüchte geweckt, und mit dieser Gewißheit erwachen sie zum Leben.
Was sie für einen Verlust halten, öffnet ihnen die Augen.
Du sagst es, Ausguck. Jetzt ließe sich mit Fug und Recht sagen, sie beginnen zu leben.
So erklärt es Gramner?
So erklärt es Gramner. Die Dinge sind kompliziert, nicht wahr?
Der Regenbogen, erinnerst du dich, was er vom Regenbogen erzählt? Er sei immer da, sagt Gramner, bei Tagesanbruch statte er die Welt mit Farben aus und sammle sie ein, sobald der Abend dämmert. Dem menschlichen Auge zeige er sich selten, die Dinge sind kompliziert.
Gramner ist ein Juwel auf der ›Boston‹.
Wolf Senff, langjähriger Autor bei ›TITEL kulturmagazin‹, legt mit ›Scammon und der Wal‹ eine Erzählung vor, die einen faszinierenden Einblick in Aufstieg und Niedergang einer bedeutenden Technologie gibt.
Darüber hinaus zeugt die Erzählung von dem todesmutigen Kampf gegen eine heutzutage immer noch praktizierte Jagd auf Wale, lenkt unseren Blick aber auch auf die vor allem durch andere Ursachen gefährdete Existenz unserer großen Meeressäuger.