Bilderbuch | Allen Say: Der Kranichbaum
Ein kleiner Junge ist todunglücklich, weil er glaubt, für seinen Ungehorsam von der Mutter bestraft zu werden. In Wirklichkeit ist alles ganz anders. ANDREA WANNER freut sich über eine etwas andere Weihnachtsgeschichte.
Es gibt ein mütterliches Verbot: den Teich im Garten der Nachbarn. Es ist ein großer Teich, in dem Karpfen schwimmen und der Junge hält sich nur zu gern dort auf. An diesem kalten Wintertag entdeckt er keinen Fisch, kommt aber klitschnass und erkältet nach Hause. Seine Mutter steckt ihn sofort in die heiße Badewanne, macht ihm die Reisschleimsuppe. Sie wäscht ihm nicht den Rücken, liest ihm nichts vor, besteht darauf, dass er – obwohl es erst Nachmittag ist – ins Bett geht. Und geschieht das Ungeheuerliche: Sie gräbt die kleine Kiefer im Garten aus, den die Eltern zur Geburt ihres Kindes gepflanzt haben. Was bedeutet das alles?
Allen Say erzählt eine sehr persönliche Geschichte aus seiner Kindheit. Der heute in den USA lebende Fotograf, Schriftsteller und Illustrator wurde 1937 in Japan geboren, seine Mutter stammt aus Kalifornien. Und sie sorgt an diesem besonderen Tag dafür, dass sich zwei Kulturen treffen: das Weihnachtsfest in einem Land, in dem es nicht gefeiert wird. Sie erzählt nicht von dem christlichen Ursprung des Festes. In ihren Schilderungen wird es zum Fest der Liebe und des Friedens. »Fremde lächeln einander an, Feinde unterbrechen den Kampf.« Es gibt geschmückte Bäume und natürlich Geschenke.
So darf die japanische Zierkiefer in ihrer kunstvoll beschnittenen Form für einen Tag in einen Topf, wird mit Origamikranichen und Kerzen geschmückt. Ein kleiner Junge staunt, spürt die Bedeutung, die dieses Fest für seine Mutter hat. Und darf sogar die Kerzen anzünden.
Say erzählt die Geschichte konsequent aus der Geschichte des ratlosen Kindes, das sich vor dem großen Donnerwetter fürchtet, Angst davor hat, dass die Mutter endgültig verärgert ist. Jede Textpassage auf der linken Buchseite wird rechts von einem meisterhaften Aquarell begleitet. Detailreich finden sich dort Szenen wieder, die wir sofort als »japanisch« identifizieren. Der Kimono der Mutter, die Suppenschale mit den Stäbchen, das Lacktablett, die Reispapierwände, der Futon, die kunstvollen Origamikraniche.
Eine ruhige Atmosphäre geht von diesen Bildern aus, die in einem Spannungsverhältnis zu der Aufgewühltheit des Kindes steht. Man sieht die ruhigen, konzentrierten Bewegungen der Mutter beim Falten der Kraniche zu sehen, die Behutsamkeit, mit der sie ihrem Sohn in seinen warmen Kimono hilft, die Zuneigung der Eltern, die aus dem beleuchteten Flur in das dunkle Zimmer, in dem der Junge schläft, blicken. Alles vermittelt Vertrauen, Liebe und Wärme. Say ist ein Meister seines Fachs, als »zart und wahrhaftig« hat Magali Heißler seine Kunst bei der Besprechung von ›Der Kamishibai-Mann‹ beschrieben.
Zwei Kulturen begegnen sich: Die Mutter aus Kalifornien im Kimono steht neben ihrem Mann, dem Japaner im westlichen Anzug mit Krawatte. Am 7. Dezember 1941 war der japanische Angriff auf Pearl Harbor. Kriege können überwunden werden, Feinde zu Freunden. Und als Symbol dafür steht hier das festlich geschmückte Bäumchen mit den Origami-Kranichen, dem Symbol für ein langes, glückliches Leben. Und die Legende besagt dass der, der 1000 Origami Kraniche faltet, von den Göttern einen Wunsch erfüllt bekommt. So versöhnlich kann man Weihnachten sehen, so wunderbar von der Geschichte des Weihnachtsbaums erzählen.
Und ganz am Ende äußert sich Say dann noch augenzwinkernd zu den unterschiedlichen Schneemann-Traditionen auf der Welt. Aber das muss man selber entdecken in einem ungewöhnlichen und zauberhaften Weihnachtsbuch.
Titelangaben
Allen Say: Der Kranichbaum
Mein erstes Weihnachtsfest
(Tree of Cranes, 1991). Aus dem Amerikanischen von Gabriela Bracklo
Gräfeling: Edition Bracklo 2019
34 Seiten. 19,80 Euro
Bilderbuch ab 5 Jahren
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