Musik aus dem Exil zu Kardamom-Kaffee

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world

Den letzten Monat habe ich auf bunten Märkten voller Trubel, in roten Gesteinslandschaften oder am schäumenden, blauen Atlantik in Marokko verbracht. Jetzt sitze ich an meinem Fenster und beobachte grauen Beton, bewölkten Himmel und einen dicken Regentropfen nach dem nächsten. Ich mag dieses Bild sogar, aber ganz wollte ich Marokko dann doch noch nicht gehen lassen. Deshalb schlürfe ich arabischen Kardamom-Kaffee, meine Neuentdeckung aus Marokko, und höre etwas, dass ich entdeckt habe, als ich auf der Reise angefangen habe, mich mit der Musik der Nomaden zu beschäftigen. Geschlossene Augen, der Geschmack von starkem Kaffee, Kardamom, Ingwer und Muskat und die Musik von Tamikrest, Songhoy Blues und Aziza Brahim.Von LOUISE RINGEL

Tamikrest Kidal Die Mitglieder von Tamikrest gehören den Tuareg an. Ein Nomadenvolk, das die Wüste Sahara und den Sahel bevölkerte. Heute leben viele im Exil, kämpfen gegen Marginalisierung und Einschränkungen ihrer nomadischen Lebensweise. Auf Tamaschek, der Sprache der Tuareg, bedeutet Tamikrest der »Knotenpunkt« oder das »Bündnis« und das sind sehr treffende Worte für die Band. Ihre Mitglieder kommen aus Mali, Nigeria, Algerien und Frankreich und vereinen somit nordafrikanische und europäische Elemente. Das spiegelt ihre Musik wider, die neben dem traditionellen Stil der Tuareg, auch Elemente der westlichen Rock- und Popmusik enthält. Dub, Blues, Funk und Psychedelia Einflüsse lassen sich immer wieder erkennen. Manchmal (an ausgedehnten Gitarrensoli beispielsweise) auch, dass Jimi Hendrix den Raum sehr geprägt hat.

Sie selbst sagen, dass sie ihre Wurzeln in der Ishumar Musik (Ishumar sind Nomaden, die den nomadischen Lebensstil aufgegeben haben und in den umliegenden Staaten Jobs suchen) und dem Tuareg Blues haben. Für mich klingt alles noch exotischer, als es ohnehin schon ist, weil der Gesang auf Tamaschek ist und ich offensichtlich kein Wort verstehe, wenn ich nicht mühselig übersetze. Neben dem Gesang prägen Djémbe, Percussion, Bass, Schlagzeug, Kalebasse und unzählige Gitarren. Feurig und erdig. Leidenschaftlich und schmerzlich und Rhythmen, die in Trance versetzen.

Die Bandmitglieder lernten sich in Kidal in Mali kennen und gründeten dort Tamikrest. Die politische Lage dort ist so instabil, dass sie seit Jahren im Exil leben. Dadurch gewinnt der Titel des Albums aus 2017 noch an Bedeutung: Kidal. Die Sehnsucht, Wehmut über eine Basis und eine Heimat, bei der nicht sicher ist, ob sie diese wiedersehen und die Romantik, die an einen solchen  Ort geknüpft ist. Kidal ist mit fantastischen Tracks wie Mawarniha Tartit und Tanakra bisher mein liebstes Album. Ende März wird Tamotaït erscheinen. Das Wort steht für so viel wie die Hoffnung auf positiven Wandel.

Bisher sind zwei Singles des Albums veröffentlicht. Awnafin, das deutlich stärker nach europäischem Rock und deutlich schwächer nach Melancholie klingt, aber dafür vielleicht aufgeweckter und mutiger und Timtarin, der erst ein sehr gefühlvoller, langsamer Song ist, der dann an Geschwindigkeit zunimmt und immer dringlicher wird. Gefeatured wird er von Hindi Zahra. Auch die anderen Songs vermitteln den Eindruck, dass gerade keine Zeit mehr für Schwermut ist. Amzagh ist ein Stück, dass sich mit den Mitgliedern des Volkes in der Zukunft auseinandersetzt und Sastnam Hidjan handelt von Revolution. Es klingt, als würde etwas brodeln und bald überkochen und vielleicht ist das der einzige logische Schritt in der Entwicklung von Tamikrest.

Tamikrest sind natürlich bei Weitem nicht die einzige Stimme der Nomadenvölker.

Songhoy BluesSonghoy Blues ist eine Gruppe aus Mali, die staubige, lebendige und sehr politische Musik macht. Die Mitglieder gehören der Bevölkerungsgruppe der Songhoy an, die in Timbuktu und Gao leben. Als Islamisten 2012 zeitweilig ein Scharia-Regime errichteten und unter anderem »unislamische« Musik verboten, entschieden drei Männer sich für die Musik und flohen. In Bamako trafen sie auf einen vierten und gründeten dort Songhoy Blues.

Music in Exile ist wortwörtlich was es ist und wurde ein rhythmisches und intensives Album. Der Song Irganda ist funky, besticht mit einem großartigen Gitarrensolo und der Tatsache, dass Stillhalten unmöglich ist. Und dann sind da auf der anderen Seite Stücke wie Petit Metier. Ruhig, traurig und doch voller Hoffnung mit wahnsinnig stimmungsvollen Background Vocals. Ihr letzter Release Meet Me In The City hat mit Shakara einen fantastischen Track, in dem Trompeten und Trommeln dominieren und einen groovy Rhythmus kreieren.

Auch Songhoy Blues machen nicht ausschließlich Folk, sondern arbeiten mit amerikanischen und europäischen Musiker*innen und Produzierenden zusammen. So beispielsweise für den Song Soubour, in dem Nick Zinner von den Yeah Yeah Yeahs mitgewirkt und hörbar mit seinen Gitarrenriffs geprägt hat. Soubour bedeutet Geduld und das ist etwas, das so traurig es auch ist, Hoffnung verspricht.

SahariAziza Brahim reiht sich in die lange Kette der Musiker*innen, die Musik aus dem Exil machen. Sie stammt vom Nomadenvolk der Sahraui und wurde in einem riesigen Flüchtlingslager in einer Steinwüste in Algerien geboren, nachdem ihre Mutter aus ihrer ursprünglichen Heimat in der Westsahara vertrieben wurde. Das Interessante an Aziza Brahims Musik ist, dass sie sich auch einiger Elemente aus dem Reggae und der elektronischen Musik bedient. Tabal, die traditionelle Kesseltrommel und elektronische Percussion. Altmodisch und modern. Vielleicht ist es genau dieser Austausch, diese Vereinbarkeit, die ihr wichtig sind, denn immerhin ist es das, was sie heute in sich vereint.

Und vielleicht ist diese Öffnung des Genres für Aziza auch wichtig, um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Obwohl sie sich bisher häufig an die Sahraui gewendet und ihr Heranwachsen im Flüchtlingslager thematisiert hat, weitet sie ihren Blick heute und spricht und singt über Flüchtende weltweit. Auf ihrem bisher letzten Album Sahari berichtet sie im Song Sahari vom Gefühl der Entwurzelung und der Heimatlosigkeit und in Ard El Hub geht es um die Unmöglichkeit in die Heimat zurückzukommen und diese Nostalgie und Wehmut durchdringen Azizas Stimme wahnsinnig eindrücklich.

Die Musiker*innen verbindet das Exil, die Hoffnung und der Versuch, diesem Gefühl und den Erfahrungen Ausdruck in der Musik zu verleihen. Musik als Motor und als Medium, eine Form der Kommunikation, die wir trotz Sprachbarriere verstehen.

| LOUISE RINGEL

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