/

Der 100-Millionen-Coup

Roman | Lee Child: Der Ermittler

Die Nachricht sorgte für einige Unruhe. Lee Child will sich nach mehr als 20 Jahren und zwei Dutzend Romanen von seiner Figur Jack Reacher trennen. Da der Ex-Militärpolizist freilich inzwischen an der Schwelle zur Unsterblichkeit steht, soll Childs – der im bürgerlichen Leben den Namen James Grant trägt – Bruder Andrew Grant als Andrew Child Reacher übernehmen und die Saga fortsetzen. Kann das funktionieren? Man wird sehen. Oder auch nicht, sollte der Plan wieder aufgegeben werden. Für seine deutschen Leser wäre das im Übrigen momentan nicht ganz so dramatisch. Denn noch warten drei Reacher-Romane auf ihre hiesige Erstveröffentlichung. Enough time to say Good-bye! Von DIETMAR JACOBSEN

Lee Child - Der ErmittlerDa war doch was? Arabische Gotteskrieger, die von Hamburg aus einen Anschlag planen, der die Welt erschüttern soll? Richtig: 9/11 und die vier Studenten der TU Hamburg-Harburg, die seit 1999 die Anschläge vom 11. September 2001 vorbereiteten. Auch im 21. Reacher-Roman mit dem deutschen Titel Der Ermittler hat sich in der Hansestadt eine kleine Terrorzelle eingenistet. Man steht in Kontakt mit Al-Qaida-Führern im afghanischen Dschalalabad. Und die sind bereit, 100 Millionen Dollar locker zu machen für ein Geschäft mit einem bis zu seiner Enttarnung im letzten Romandrittel nur »der Amerikaner« genannten Mann. Und weil man nicht mehr weiß über den bevorstehenden Coup und das Gefahrenpotential, das er enthalten könnte, heißt es schon ziemlich bald: Jack Reacher, übernehmen sie!

Drei Jahre vor der Jahrtausendwende

Der Ermittler spielt vier Jahre vor der Jahrtausendwende. Insofern dürfte es deutsche Leser etwas verwundern, auf Seite 86 schon auf die Bundeskanzlerin zu stoßen, die damals lediglich über das Umweltministerium herrschte. Recherche- oder Übersetzungsfehler? Sei’s drum! Auch andere heute selbstverständliche Dinge wie das Internet samt seiner dunklen Seite hatten sich Mitte der Neunziger noch nicht überall durchgesetzt. Das Jahr-2000-Problem spielte allerdings bereits eine Rolle in den Köpfen der Technik-Experten weltweit.

Insofern geht die kleine exklusive Runde von einem CIA-Mann, einem Top-Ermittler des Bundeskriminalamts FBI und dem 1996 noch zur Militärpolizei gehörenden Army-Major Reacher, die der Nationale Sicherheitsberater unter dem Vorwand einer gemeinsamen Weiterbildungsschulung zusammengetrommelt hat – Reacher hat gerade im Namen der Freiheit auf dem Balkan zwei Massenmörder liquidiert und dafür still und heimlich einen Orden kassiert –, fürs Erste auch davon aus, dass der Welt wohl eine üble Cyberattacke bevorsteht.

Doch Childs taffer Held will in der Ferne nicht darüber spekulieren, was vor Ort ganz anders aussehen könnte. Also schnappt er sich den besten Soldaten, mit dem er je zusammengearbeitet hat – was in diesem Fall auf eine Frau hinausläuft, nämlich Sergeant Frances Neagley –, und macht sich auf über den großen Teich ins ferne Deutschland. Allein die Aufgabe, vor die sich die beiden Top-Ermittler dort gestellt sehen, scheint kaum lösbar.

Denn weder weiß man, was für 100 Millionen Dollar auf welchem Wege seinen Käufer finden soll, noch wer auf amerikanischer Seite das Geschäft eingefädelt hat und wo der Unbekannte seine wertvolle Ware bis zur Übergabe bunkert. Nur die Adresse der kleinen Hamburger Terrorzelle ist bekannt, weil die CIA dort einen Mann eingeschmuggelt hat, der über den Fortgang der Verhandlungen, die per Kurier zwischen Dschalalabad und Hamburg geführt werden, informiert. Also sich auf die Lauer legen, warten was passiert, es sich nicht mit den deutschen Behörden verderben und für die Sicherheit des Mannes sorgen, der als Informant tagtäglich sein Leben riskiert.

Wer ist Davy Crockett?

Reacher freilich wäre nicht Reacher, wenn er nicht mit Intuition, Geschick und dem einen oder anderen gut gezielten Faustschlag den Kreis der Verdächtigen, denen ein Landesverrat für die Wahnsinnssumme von 100 Millionen Dollar zuzutrauen wäre, binnen kurzem radikal reduziert hätte. Um wen es sich schließlich handelt bei dem »Amerikaner«, was der Mann anzubieten hat, wie er in dessen Besitz gelangt ist und warum ein gewisser Davy Crockett bei der ganzen Sache eine gewichtige Rolle spielt, soll hier nicht verraten werden.

Immerhin so viel sei gespoilert: Am Ende wird Schlimmes verhindert, das Geld landet in den richtigen Händen, der norddeutsche Terrorsumpf wird trockengelegt und ganz nebenbei springen auch noch ein paar Neonazis über die Klinge, die über gute Beziehungen in höchste Polizeikreise der Hansestadt von dem Coup erfuhren und als eine Art Zwischenhändler die gefährliche Ware abzugreifen gedachten, um sie augenblicklich für ihr eigenes erklärtes Endziel, die Errichtung eines 4. Reiches, einzusetzen.

Der Ermittler spult sein Garn routiniert ab, wechselt gekonnt die Schauplätze und trägt Sorge dafür, dass Reacher auch bei diesem Abenteuer ein paar erotische Seitensprünge machen kann. Zwar ist das Deutschland-Bild, das der Roman präsentiert, arg schief und klischeebelastet – aber allein dass Child zweien seiner deutschen Protagonisten die Namen Klopp und Augenthaler verpasst hat, hält den fußballbegeisterten Rezensenten davon ab, allzu streng mit einem Verständnis der deutschen Wiedervereinigung als Rückschlag und den beigetretenen Ostdeutschen als »ignorante[n], derbe[n] Leute[n]«, sprich: geborenen Verlierern und »Underdogs«, ins Gericht zu gehen.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Lee Child: Der Ermittler
Ein Jack-Reacher-Roman
Deutsch von Wulf Bergner
München: Blanvalet 2020
413 Seiten. 22,- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ziemlich krass

Nächster Artikel

Schepper, klapper, rumms!

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Wie ein Wirbelwind

Roman | Carlo Lucarelli: Laura di Rimini

Schnallen Sie sich an und machen Sie sich in Carlo Lucarellis neuem Roman auf ein atemberaubendes Tempo gefasst. Rät BARBARA WEGMANN

Vier Folgen à neunzig Minuten

Film | Serie | Im TV: Das Verschwinden am 22., 29., 30., 31. (ARD) Der Schluss kommt hammerhart. War das ein Krimi? Schon, gewiss, ja, doch das interessiert weniger. Und nein, eine Schusswaffe taucht nirgendwo auf. Eine vierteilige Serie, jeder Teil hype-mäßig als Doppelfolge angekündigt, also voll das Gewese. Und? Lohnt sich’s? Ja, das würde WOLF SENFF so sagen, doch, unbedingt.

Leben am Rande der Hölle

Roman | Hervé le Corre:  Durch die dunkelste Nacht

In Frankreich ist er ein Star und vielfach prämiert. Im deutschsprachigen Raum kennt man ihn bisher kaum. Nun hat der Suhrkamp Verlag in seiner von Thomas Wörtche kuratierten Reihe mit internationalen Kriminalromanen einen ersten Text von Hervé le Corre publiziert. Und der ist so dunkel, wie es sein Titel verspricht. Allenfalls über seine poetische Sprache lässt er ein wenig Hoffnung ein. Aber die ist nicht von Dauer im Leben der drei Personen, die le Corre ins Zentrum seines Buchs gestellt hat: einen Polizisten, eine alleinstehende junge Mutter und einen Serienmörder. Ihre Wege verfolgt Durch die dunkelste Nacht, bis sie, nachdem sie eine ganze Weile nebeneinanderhergelaufen sind, sich schließlich treffen. Und en passent wirft der Autor dabei auch noch einen Blick auf die aktuelle Stimmungslage in unserem westlichen Nachbarland – eine Analyse, die alles andere als zukunftsfroh stimmt. Von DIETMAR JACOBSEN

Ein postmodern designter Käptn Haddock

Film | Im TV. Tatort – 907 Der Hammer (WDR), 13. April Wir beneiden den Busfahrer um seine Blitzreaktion, absolut, wir fühlen Schmerz mit einem Obdachlosen, sind angefressen von einem 1,6‰-Jugendlichen im 3er-BMW – was so ein Sturz vom Dachgeschoss alles auslöst. Nein, menschenfreundlich geht’s nicht zu, davon kann keine Rede sein. Ein Bauunternehmer wird in seinem Büro mit Säure attackiert, mit einem Hammer erschlagen und durchs Fenster gestürzt, da ist wohl jemand außer Rand und Band und leistet ganze Arbeit. Von WOLF SENFF

Apokalypse in Texas

Roman | James Lee Burke: Glut und Asche Auf Anhieb hat es James Lee Burke 2015 mit Regengötter auf den ersten Platz/international des Deutschen Krimi Preises geschafft. Die Geschichte um den texanischen Sheriff Hackberry Holland und seinen psychopathischen Widersacher, Preacher Jack Collins, überzeugte die Jury durch ihre Archaik und eine Sprachgewalt, die noch dem kleinsten Ereignis eine schicksalhafte Bedeutung zu geben verstand. Nun, in Glut und Asche, ist Hackberry Holland zurück und hat sich im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko gleich mit einer ganzen Reihe von durchgeknallten Gewalttätern auseinanderzusetzen. Von DIETMAR JACOBSEN