/

Covid-19

TITEL-Textfeld | Wolf Senff:  Covid-19

Die Wirklichkeit, sagte Tilman, ist vielschichtig.

Gewiß, sagte Susanne und spottete, nur sei das keine umwerfend neue Erkenntnis.

Ich langweile dich, fragte er.

Wenn es soweit ist, sage ich dir Bescheid. Susanne stand etwas abrupt auf und ging in die Küche, um dort Tee aufzugießen. Sie brachte das Drachenservice auf die Terrasse, Tilman deckte auf.

Nicht die Krankheit beschäftigt mich, rief Tilman ihr zu, sondern die Reaktion des Menschen.

Was daran verwunderlich sei, fragte sie, während sie den Tee einschenkte, die Mediziner würden forschen und einen Impfstoff suchen, das sei so üblich.

Stimmt, sagte er, doch die Reaktion gehe diesmal darüber hinaus, sie sei neu und überraschend, denn der Mensch rufe nicht zum Krieg gegen diese Krankheit auf, er kämpfe keine Gefechte, sein Verhalten sei grundlegend anders.

Du erklärst es mir.

Was soll der Mensch tun? Das Virus ist heimtückisch, er hat nicht die geringste Chance, er ist ohnmächtig, er unterliegt, und wenngleich er das nicht sagt – er weiß das. Also bitte, was soll er tun?

Susanne lachte. Du erklärst es mir.

Tilman schwieg, er beugte sich bedächtig vor und trank einen Schluck Tee.

Der Mensch beweise Sinn und Verstand, er flüchte, er verberge sich, wo irgend es gehe, er reagiere geschmeidig, er suche dem Virus listig auszuweichen, er beobachte das Virus und entziehe sich, wo irgend möglich, und liefere ihm keine Nahrung.

Er beweist Klugheit.

Wer hätte das gedacht? Er beweist Klugheit.

Obgleich seine Mittel begrenzt sind: Atemschutzmasken, Handschuhe, zu Hause bleiben. Die Devise, Abstand von einander zu halten, zermürbt die Grundlagen des Zusammenlebens, auch das muß man wissen – verzweifelte Maßnahmen, die aus dem Wissen um die eigene Ohnmacht geboren sind.

Exakt, Susanne, der Mensch tritt nicht als Sieger auf, als pompöser Heilsbringer, sondern – und vermutlich ist ihm das noch gar nicht klar – er ist unterlegen, er ist gezwungen, so etwas wie passiven Widerstand gegen einen übermächtigen Gegner zu leisten, er muß dessen Machtzuwachs ausbremsen, ich wies darauf hin, und es ist ungewiß, ob er das Virus je loswerden wird. Tilman trank einen Schluck Tee.

Susanne lächelte, sie liebte das Service und konnte den Blick einfach nicht von dem zierlichen lindgrünen Drachen lösen.

Ein Paradigmenwechsel, sagte sie.

Ihm scheint klar zu werden, sagte Tilman, daß er die unerquickliche Suppe, die er angerichtet hat, wird auslöffeln müssen, was immer das en detail bedeuten mag, und Covid-19 wird sich als schwer verdaulicher Brocken erweisen.

Es gibt zahllose Beispiele, Tilman, die destruktiven Auswirkungen menschlichen Wirtschaftens treten unübersehbar zutage.

Hochmut kommt vor dem Fall, Susanne.

Trotz verringerter Infektionszahlen, heißt es in den Nachrichten, sei die Ausbreitung des Virus noch nicht unter Kontrolle.

›Unter Kontrolle‹ sagen sie – in diesen Worten scheint er wieder auf, Susanne, der Mensch als Herr der Lage, ein Esel im Wolfspelz, er kann es nicht lassen. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so, die Ordnung der Dinge ist erschüttert, er ahnt das nur, ein Bauchgefühl, er paßt sich an und vermeidet alles, was das Virus anstacheln könnte – der Mensch, der andere so gern auffordert, sich zu integrieren, beginnt sich kleinlaut in die natürlichen Zusammenhänge zu fügen, endlich, spät, jedoch es kann ein Anfang sein.

Bestenfalls. Kleinlaut, Tilman? Schlägt er nicht große Töne an und gibt sich schon wieder siegesgewiß? Susanne lächelte, sie war skeptisch, Covid-19 war ein früher Ausläufer der Lawine, definitiv, die Lage spitzte sich zu.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Autoliebe im Miniformat

Nächster Artikel

Ziemlich krass

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Spielregeln

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Spielregeln

Was denn nun, fragte Wette.

Er wisse von nichts, sagte Farb.

Ob er austeilen solle, fragte Tilman.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Sahne und nahm sich einen Marmorkeks; seitdem die Preise für Vanille in unerschwingliche Höhen gestiegen waren, waren die Vanillekipferl, die er früher so gern gegessen hatte, nicht länger im Handel erhältlich.

Ausrottung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausrottung

Nein, sagte Termoth, in Kalifornien habe es keine so gravierenden Einschnitte gegeben wie 1832 den Trail of Tears oder 1890 die Schlacht am Wounded Knee, in Kalifornien sei die Ausrottung der Ureinwohner geschmeidig verlaufen, es habe keinen Aufschrei gegeben, und es sei nicht leicht, das Geschehen zu rekonstruieren, zumal die indigenen Stämme bereits von den Spaniern gewaltsam hätten christianisiert werden sollen, doch statt eines Erfolges habe sich Syphilis ausgebreitet und dazu in Epidemien Pocken, Typhus und Cholera, unerfreuliche Mitbringsel der Eroberer – die indigene Bevölkerung, vor der spanischen Missionierung siebzigtausend, sei bis zum Ende der Indianerkriege 1890 um über drei Viertel auf siebzehntausend reduziert worden.

Touste stutzte und spielte einige Töne auf der Mundharmonika.

Thimbleman starrte den Ausguck an.

Crockeye lächelte.

Eldin vergaß den Schmerz in der Schulter.

Faustrecht

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Faustrecht

Farb trug eine Schale mit Pflaumenschnitten auf, er hatte ein Blech gebacken, sie waren noch warm.

Annika warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Verteilungskämpfe, sagte Tilman, wir erleben Verteilungskämpfe, der Planet ist abgewirtschaftet, seine Ressourcen sind erschöpft, die Situation ist dramatisch.

Farb tat sich vom Kuchen auf, nahm von der Sahne, strich sie sorgfältig glatt und sah mißmutig zu, wie sie sogleich an den Rändern zerfloß.

Tilman rückte näher an den Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Der Meister des Film noir

Kurzprosa | Christoph Haas: Eine Nacht im Juli, eine Nacht im Dezember

In den kurzen Geschichten scheint ein romantischer Grundton mitzuschwingen, eine Sehnsucht, der Blick auf etwas Vertrautes – eine erste Stimmung, die jedoch nach wenigen Zeilen bereits wieder durchbrochen wird. Der kleine Band mit Erzählungen von Christoph Haas Eine Nacht im Juli, eine Nacht im Dezember sammelt alltägliche Szenen, die es in sich haben. Nichts Dramatisches und Extravagantes, aber dennoch gibt es kleine Unregelmäßigkeiten in der scheinbaren Normalität. Ein bemerkenswertes Debüt findet HUBERT HOLZMANN

Farb

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Farb

Die Tage vergingen, als wäre nichts geschehen, als wäre Farb noch präsent, als wäre alles wie gehabt, nach dem Frühstück bevölkerte sich der mit einer mannshohen Plane umsäumte Strandabschnitt, die Dänen trafen wie üblich gegen halb zehn von ›Cesar's Palace‹ ein und besetzten ihre Liegen neben dem massiven Felsblock.