Die Perlenkette auf dem Grund des Meers

Kinderbuch | M.Martí / X.Salomó: Unter den Wellen

Sommer, Sonne, Strand. Draußen im Meer treibt Max mit seinem Schwimmring. Und verwandelt sich. Ein ganz normaler Junge also. Auch wenn er zu seinem Rollstuhl getragen werden muss. GEORG PATZER hat das wunderschöne Bilderbuch aus Spanien gelesen.

Unter den WellenOoooh, Sommer … gelber Sand, blauster Himmel, blaustes Meer … drei Sonnenschirme sieht der kleine Steppke, als er am Strand ankommt, und rechts spielen drei Jungs mit einem Ball. Geschrei, Getobe, Gejuchze. Aber erst muss er natürlich ins Wasser. Wirft sein grünes, großes Strandhandtuch weg, rennt, stürzt kopfüber, springt – herrlich! Spitz schaukeln sich die türkisen Wellen hoch, durch die er schwimmt, eine Möwe schwebt über ihn hinweg. Und dann sieht er etwas weiter einen Jungen in einem rot geringelten Schwimmring und schwimmt natürlich zu ihm.

»Du bist doch schon viel zu alt für einen Schwimmring«, sagt er. »Kannst du nicht schwimmen?« Der andere wird rot: »Nein.«
»Mir ist kalt. Wollen wir zusammen am Strand spielen?«
»Ich bleibe noch.«
»Und was machst du hier?«
»Mich treiben lassen.«
»Tschüss dann!« Und krault zurück.

Allein bleibt der andere zurück, lässt den Kopf über dem Schwimmring hängen, allein im ganzen Meer – so sieht es aus. Oder er späht nach unten, weil er etwas entdeckt hat. Jedenfalls streckt er plötzlich die Arme nach oben und lässt sich ins Wasser sinken. Weg. Nur der Schwimmring schaukelt noch auf den Wellen. Der Junge hat sich in einen Fisch verwandelt, mit rot geringeltem Hinterteil, und taucht und taucht in die dunkelgrüne Tiefe. Luftblasen steigen auf, und am Grund des Meers findet er ein Schiffswrack. Taucht durch die Bullaugen, durch die Löcher im Boden in die schwärzeste Schwärze. Auf einen Lichtschimmer zu. Und findet mit staunend aufgerissenem Mund eine Schatzkiste mit Goldmünzen und einer Kette.

Da schreckt plötzlich seine Mutter am Strand hoch. Gesonnt hat sie sich und ist eingenickt: »Max?« Läuft in Panik ins Wasser. Schwimmt zum leeren Schwimmring, mit weiten leeren Augen. »Max?« Natürlich geht es gut aus, ein ertrunkener Junge – das geht ja auch nicht in einem Bilderbuch: Japsend durchstößt Max die Wasseroberfläche und taucht neben seiner Mutter auf. »Sieh mal, Mama!«, ruft er und hält ihr die Kette hin, die er auf dem Meeresgrund gefunden hat.

Sommersonnenstrandstimmung

»Unter den Wellen« heißt das Buch, das die spanische Autorin Meritxell Martí geschrieben und Xavier Salomó wunderbar gemalt hat. Die doppelseitigen Bilder mit ihrer schönen Sommersonnenstrandstimmung sind tatsächlich eher Gemälde als einfache Illustrationen, sie machen die Geschichte fühlbar, die Sonne, das Wasser, die Tiefe und die Schwärze ganz unten. Man hört das Blubbern der Luftbläschen, die der Fischjunge wie ein Taucher ausstößt und nach oben schweben lässt, spürt das Tanzen der Algen in der Meeresströmung, ist irritiert vom Dunkel und geblendet vom Gold.

Die bis hierhin etwas phantastische Geschichte nimmt jetzt einen überraschenden Verlauf: Die Mutter schiebt Max in seinem Schwimmring an den Strand, wo der erste Junge mit den anderen drei Buben Ball spielt und sich jetzt neugierig umsieht. »Halt dich gut fest«, sagt die Mutter und hebt Max hoch. »Du bist ja wirklich mutig«, lobt sie ihn und will wissen, woher er die Halskette hat, die sie jetzt trägt.

Aber das ist ein Geheimnis. Und dann sieht man, wie sie ihn zu ihrem Sonnenschirm trägt, neben dem ein Rollstuhl steht. »Sie steht dir sehr gut«, sagt Max. Und nun geht der Junge, der neugierig zugeguckt hat, zu den beiden und redet mit Max, während sich die Mutter die nassen Haare trocknet. Und dann aus dem Bild verschwindet, weil sich das ganz auf die beiden Jungs konzentriert. Und die haben ganz offensichtlich ihren Spaß.

Ein »schweres« Thema, Behinderung, auf eine leichte Art behandelt: mit Normalität. Der andere Junge hat jetzt verstanden, warum Max nicht mit an den Strand wollte, um Fußball zu spielen. Das heißt aber nicht, dass er außen vor ist. Dann macht man halt was anderes.

Und es heißt auch nicht, dass Max keine Abenteuer erleben kann, denn dass er wirklich was erlebt hat, zeigt die Halskette, die er mitbringt. Keine Phantasie, kein Tagtraum, sondern Wirklichkeit. Verzaubert, aber wirklich.

Auch malerisch ist es gut gelöst, denn der Rollstuhl ist nur einmal zu sehen, ansonsten hängt Max eben in seinem Schwimmring oder er sitzt auf dem Strandtuch, und sie erzählen und erzählen und erzählen. Ein azurblaues, etwas träumerisches, schönes Bilderbuch, genau passend zum Sommer.

| GEORG PATZER

Titelangaben
Meritxell Martí / Xavier Salomó: Unter den Wellen
(Sota les onades, 2019), übersetzt von Nicola T. Stuart
Berlin: Jacoby & Stuart 2020
68 Seiten, 15 Euro
Bilderbuch ab 6 Jahren
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