Hornbrillenwürschtl am Kilimandscharo

Roman | Matthias Politycki: Das kann uns keiner nehmen

Der inzwischen 65-jährige Schriftsteller Matthias Politycki – bekannt geworden durch seinen Weiberroman (1997) und Ein Mann von vierzig Jahren (2000) – hat sich zuletzt vor allem als kosmopolitischer Welterkunder betätigt. 2005 war der auf Kuba angesiedelte Roman Der Herr der Hörner erschienen, acht Jahre später entführte er seine Leser in Samarkand, Samarkand nach Usbekistan. PETER MOHR hat Polytickis aktuelle Neuerscheinung gelesen.

Das kann uns keiner nehmen 9783455009262Im neuen Roman Das kann uns keiner nehmen geht es nach Afrika, genauer nach Tansania. »Schließlich hatte ich noch eine Rechnung mit diesem Berg offen und war entschlossen, sie morgen zu begleichen«, bekennt Ich-Erzähler Hans, ein Schriftsteller von Anfang 60, der vor vielen Jahren bei der Besteigung des Kilimandscharo gescheitert war und nur dank seiner damaligen Lebensgefährtin Mara überlebt hatte.

An einem Krater in über 5000 Meter Höhe trifft Hans, der leicht introvertierte Kopfmensch, auf einen derben Bayer – »wettergegerbt, vielleicht Ende sechzig, der immer noch den Rocker geben wollte.« Jener »Tscharli« ist das genaue Gegenteil des Ich-Erzählers – ein lautstarker Sprücheklopfer, Macho und Rassist durch und durch. Er ist HIV-positiv, gesundheitlich stark angeschlagen und will seine letzten Jahre dort verbringen, wo er sich einst infiziert hat.

Bei der ersten Begegnung sind sie sich mehr als fremd, treten sogar offen feindselig einander gegenüber. »Tscharli« nennt Hans verächtlich ein »Hornbrillenwürschtl«. »In anderen Weltgegenden wird anders geurteilt, gibt es andere Werte und andere Schlüsselerlebnisse«, heißt es im Roman.

Der sensible, total verkopfte Hans muss feststellen, dass der derbe »Tscharli« bei den Einheimischen gut ankommt und dass hinter der rauhen Schale offensichtlich ein weicher Kern steckt. Ihre Gespräche, ihre Kontroversen – Aug‘ in Aug‘ – sind schon etwas aus der Zeit gefallen, das völlige Sich-Offenbaren, das schrittweise Annähern, der Übergang vom Zweckbündnis auf dem Dach Afrikas zur wahren Männerfreundschaft. Am Ende verbindet sie viel mehr als »nur« ihre gescheiterten Liebesbeziehungen.

Matthias Polityckis Tonfall changiert zwischen Martialität, tiefer Emotionalität und kurvenreicher Selbsterkundung. Protagonist Hans verändert sich unter dem Einfluss des kauzigen »Tscharli« und des archaischen Handlungsortes, der mal geheimnisvoll-magisch, mal barbarisch daher kommt: »In Afrika ist manches extremer. Es wird häufiger gelacht, aber es ist auch schneller mal gefährlich oder auch sogar schrecklich.«

Es geht um Herausforderungen, Selbstbestätigungen und Grenzüberschreitungen. Peinigende körperliche Schmerzen und die totale psychische Leere begleiten das Duo im Gleichschritt.

Am Ende fahren Hans und »Tscharli« gemeinsam nach Sansibar, wo sie auf getunten Motorrollern die Gegend unsicher machen. Die silbergrauen Senioren verspüren noch einmal so etwas wie Rockerfeeling. Hans begleitet »Tscharlis« Sterben – eine beklemmende Sequenz, vielleicht die eindrucksvollste, intensivste Passage dieses Romans.

Das kann uns keiner nehmen erzählt uns von der tansanischen Bergwelt, von einer unkonventionellen Männerfreundschaft, von unglücklichen Beziehungen und von einem langsamen Tod. Das geht ans Eingemachte und eignet sich nicht zur Überwindung des durch die Corona-Einschränkungen entstandenen Fernwehs.

Die zentrale Frage zwischen den beiden so unterschiedlichen Figuren Hans und »Tscharli«, die den gesamten Roman einrahmt, steckt in einer Textzeile von Herbert Grönemeyers Megahit »Männer«: »Wann ist ein Mann ein Mann?« – Die Antwort muss jeder Leser für sich finden.

| PETER MOHR

Titelangaben
Matthias Politycki: Das kann uns keiner nehmen
Hamburg: Hoffmann und Campe 2020
302 Seiten, 22.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Fragen über Fragen

Nächster Artikel

Purpurne Wolken und eine Armee von Raben

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Von Hunden und Menschen

Roman | Sigrid Nunez: Der Freund

Von einem unfreiwilligen Erbe, der Beziehung zu einem eigenwilligen Haustier, aber auch von den überheblichen Gepflogenheiten des Literaturbetriebs handelt Sigrid Nunez siebter Roman: Der Freund – in den USA bereits mit dem National Book Award ausgezeichnet – macht die angesehene amerikanische Gegenwartsautorin mit einem Schlag auch beim deutschen Publikum bekannt. Von INGEBORG JAISER

Eine Reise ins Nichts

Roman | Michel Houellebecq: Vernichten

Diesmal ist es kein islamistischer Terror, der in Michel Houellebecqs neuestem Roman Vernichten heraufbeschworen wird. Das 600 Seiten starke Buch des »Sehers der Moderne« richtet sich – wie zuletzt auch in Serotonin (2019) – nach innen: diesmal auf den Zerfall der Familie (oder besser gesagt, den vielleicht vergeblichen Versuch, diese zu kitten) und auf den Rückzug des Ichs. Dieser Rückzug des Menschen auf das Private, diese Innenschau wird unterstützt durch die neuesten Apparaturen der medizinischen Diagnose. Es kommt also noch mehr zum Vorschein als der Frust über menschliche Beziehungen. Von HUBERT HOLZMANN

Reiko Himekawas zweiter Fall

Roman | Tetsuya Honda: Stahlblaue Nacht Mit Blutroter Tod hat der S. Fischer Verlag vor Jahresfrist damit begonnen, die in Japan äußerst erfolgreiche Thrillerreihe um Tokios jüngste Polizistin Reiko Himekawa auch deutschen Lesern zugänglich zu machen. Die ersten Reaktionen der Kritik lasen sich verheißungsvoll. Nun liegt mit Stahlblaue Nacht – Der deutsche Titel des nicht aus dem Japanischen, sondern aus dem Englischen übersetzten Romans ist schlichtweg scheußlich! – Band 2 der Serie vor. Er steht seinem Vorgänger weder an Spannung noch an der raffinierten Konstruktion des Erzählten nach. Von DIETMAR JACOBSEN

Im Auftrag der »Abteilung«

Roman | Andreas Pflüger: Endgültig Andreas Pflüger kennt man vor allem als Drehbuchautor. Mehr als zwanzig ARD-Tatorten haben seine Ideen zur Bildschirmpräsenz verholfen. Auch Theaterstücke und Hörspiele stammen aus der Feder des 58-Jährigen. Romane freilich gibt es von ihm bisher nur zwei: Operation Rubikon von 2004 und nun, in diesem Jahr, Endgültig. Das soll sich freilich ändern. Denn die Geschichte um die blinde Ermittlerin Jenny Aaron sei noch lange nicht zu Ende erzählt, bekundet ihr Erfinder im Nachwort zu seinem Roman. Von DIETMAR JACOBSEN

»Schatz, ich gehe nur kurz Zigaretten holen!«

Roman | Manfred Wieninger: Prinzessin Rauschkind – Ein Marek-Miert-Krimi Für einen Privat-Detektiv gibt es verschiedene Möglichkeiten, an neue Klienten zu kommen, beispielsweise das Aufgeben einer Anzeige. Wem das zu spießig erscheint, der könnte auch den Polizeifunk abhören und Einbruchsopfern seine Dienste offerieren. Auch Marek Miert, seines Zeichens Harlands erster und bislang einziger Diskont-Detektiv mit Hang zu Mozartkugeln und erlesenem Rotwein, stünden diese Wege offen. Vorgestellt von STEFAN HEUER