/

Nach oben

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Nach oben

Die Stufen waren schmal für Schuhgröße 45, eine andere Kultur, die Menschen müssen klein gewesen sein, der Aufstieg war mühsam, Tilman war nicht schwindelfrei.

Einige Meter weiter rechts war eine Kette bis zur obersten Plattform ausgelegt, ein schwerfälliger Mann, kurze Hose, schrill blumiges T-shirt, hielt sich auf seinem Weg nach oben daran fest, ihm kam eine Frau entgegen, der Mann legte die Kette ab, trat zwei Schritt beiseite, nahm auf den Stufen Platz und ließ sie vorbei, am späten Vormittag hielten sich einige Leute hier auf, kein Gedränge, sondern überschaubar, Guatemala, eine politisch umkämpfte Region, war von Touristen mäßig besucht.

Tilman setzte sich, der Mann mit dem geblümten T-shirt stieg weiter nach oben. Die Pyramide war vierzig, vielleicht fünfzig Meter hoch, eine beträchtliche Strecke, wie viele Stufen mochten es sein, zwei-, zweihundertfünfzig, die Temperaturen subtropisch mild, der Tag war herrlich, das ließ sich aushalten.

Die Frau war unten angekommen, sie war schlank, mittleren Alters und nahm einen Jungen an die Hand, der sie ungeduldig erwartet hatte, sie schlenderten über die Plaza und suchten Inschriften auf den Stelen zu entziffern, der Junge war fasziniert.

Tilman kletterte ein gutes Stück auf allen Vieren, hielt den Blick angestrengt nach vorn auf die Stufen gerichtet und traute sich kaum, nach unten zu sehen, er schien wenig geeignet für diese Art Urlaub. Erst als er sich erneut setzte und gut die Hälfte geschafft hatte, genoß er den Aufstieg und sah hinab auf die weitläufige Anlage, deren Bauten sich bis tief in den Urwald hinzogen, sie war ein kultisches Zentrum gewesen und hatte Jahrhunderte des Verfalls überdauert, der Urwald des Peten war weitläufig, die Kultstätten zahlreich, der Ausblick entspannte und lohnte die Anstrengung.

Der Mann mit dem T-shirt stand vor der Pyramide der Inschriften, als überlegte er, hier ebenfalls nach oben zu steigen, er zögerte lange und wandte sich schließlich ab, auch Tilman würde sich mit der einen Pyramide zufrieden geben, der Pyramide des Jaguars, letztlich war er doch ein Eindringling, dem die Zusammenhänge fremd blieben.

Ganz oben war eine Plattform, auf der sich ein schmaler Tempel erhob, Tilman ging vorsichtig den schmalen Umlauf entlang, stets ein wenig ängstlich zum Mauerwerk gelehnt, doch er genoß den klaren Blick über den Dschungel nach Westen hin, über dichtes Grün, aus dem sich zwei weitere Pyramiden hoben, er war nie frei von Höhenangst gewesen.

Der Blick ostwärts fiel auf die zentrale Anlage mit dem gepflegten Rasen, gerahmt von langgezogenen zweigeschossigen Bauten, welchem Zweck mochten sie gedient haben, einer dichten Gruppierung von Stelen, einer kleineren Stufenpyramide, neben der einige Stufen abwärts in eine weitere Räumlichkeit führten, die Dinge waren imponierend und zeugten von einer reichen Kultur, sie waren ihm ein Rätsel, gewiß, kulturelle, religiöse Anlagen, Stätten ritueller Abläufe, für Zeremonien an geheiligten Orten, nein, mehr wußte er nicht, nur daß es sich keinesfalls um Orte des Alltags handeln konnte, das Volk wird abseits dieser Zentrale, dem Herrschaftszentrum, in einfachen Hütten aus Holz und Palmblättern gelebt haben, das Leben in diesen subtropischen Regionen stellt geringe Ansprüche.

Die Erinnerung an das einfache Volk war ausgelöscht, war verloren gegangen, geblieben waren die sich in aller Pracht darstellenden Ruinen, steinerner Prunk der herrschenden Kasten, so zahlreich, daß Archäologen im Dschungel des Peten unermüdlich nach weiteren Zeugnissen suchten.

Ein rätselhafter Ort.

Archäologie auf vielversprechenden Wegen zu den Ursprüngen? Oder verhielt es sich grundlegend anders, und es wurden lediglich die Ruinen fehlgeschlagener Großprojekte freigelegt, als die ersten Signale sterbender Kulturen?

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Dystopische Dominanz: ein düsteres 20. Jahrhundert?

Nächster Artikel

Zum Mitzählen und Nachzählen

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Eskalation

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Eskalation

Sie rüsten auf, Farb.

Erinnerst du dich daran, wie es anfing?

Gab es das denn je, Farb: einen Anfang?

Es gibt immer eine rote Linie, die überschritten wird.

Rote Linien erkennt oft nur, wer zurückblickt.

Vielleicht daß man den elektrischen Strom zu nutzen begann.

Früher noch, Farb.

Am Ende

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Am Ende

Die widrigen Abläufe, sagte Termoth, seien so offensichtlich, und weshalb stehe niemand auf, sie innezuhalten.

Wovon rede er, fragte Harmat.

Die Moderne bahne sich an, sagte Thimbleman, sie hinterlasse jetzt schon einer breite Spur der Vernichtung, du siehst es auch daran, daß die anmutigen Windjammer durch stinkende Dampfschiffe ersetzt werden, und das, sage er, sei erst der Anfang.

PETM

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: PETM

Auch der Einbruch der Eiszeit habe die Anzahl der Lebewesen drastisch reduziert, sagte Anne, immer wieder gebe es Brüche, die die Dinge durcheinanderwerfen, daß man nichts wiedererkenne.

Das Paläozän/Eozän-Temperaturmaximum müsse ein extrem tiefgreifender Bruch gewesen sein, sagte Tilman, es werde von der Forschung auf etwa 55,8 Millionen Jahre vor unserer Zeit datiert, habe sich über rund zweihunderttausend Jahre hingezogen und sei, gemessen an der Erdgeschichte, dennoch eine flüchtige Phase gewesen, die man ignorieren könnte, wären ihre Auswirkungen nicht so verheerend gewesen.

Für den Menschen sind zweihunderttausend Jahre eine endlos lange Zeit, sagte Anne und lächelte. Sie legte sich eine Pflaumenschnitte auf und schenkte Tee nach.

Tilman nahm einen Löffel Schlagsahne, es war ein angenehmer Sommmertag.

Spielregeln

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Spielregeln

Was denn nun, fragte Wette.

Er wisse von nichts, sagte Farb.

Ob er austeilen solle, fragte Tilman.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Sahne und nahm sich einen Marmorkeks; seitdem die Preise für Vanille in unerschwingliche Höhen gestiegen waren, waren die Vanillekipferl, die er früher so gern gegessen hatte, nicht länger im Handel erhältlich.

Leben

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Leben

Zufrieden, fragte er, ob er mit seinem Leben zufrieden sei, wolle sie wissen, weshalb.

Wie gereizt er reagiere, dachte sie, auf eine harmlose Frage, ungewöhnlich, dachte sie, er sei doch nicht cholerisch, sagte erst einmal nichts und schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Er betrachtete das Service, den lindgrünen Drachen, er hatte es im vergangenen Jahr aus Beijing mitgebracht, ein Geschenk.

Die Sonne spendete wohltuende Wärme an diesem herbstlichen Nachmittag, sie hingen ihren Gedanken nach.