Zeitenwenden stellen den Blick auf die Zukunft besonders auf die Probe. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert verlor der utopische Fortschrittsglaube an visionärer Kraft: Dystopien oder »Schwarze Utopien« wurden zu dominanten Spielarten der Utopie. Gründe für das vermehrte Auftreten dieser Negativ-Utopien waren vielfältig. RUDOLF INDERST blickt auf eine Zeit, in der die Zukunft nicht bloß Verheißung war.
Der Politikwissenschaftler Richard Saage argumentiert, dass sich das 20. Jahrhundert mit einer Krise des Fortschrittdenkens konfrontiert sah und sich somit das augenscheinliche Verhältnis von Mensch und Maschine änderte. Weiterhin, so Saage, hätte die Ausweitung des technisch und wissenschaftlich Machbaren keine parallele Ausweitung des Verantwortungssinnes des Menschen mit sich gebracht.
Auch andere Autoren argumentieren ähnlich. Helmut Swoboda sieht durch die Skepsis im 20. Jahrhundert das Weltbild der Aufklärung, das heißt Anagenese, Bildungsfähigkeit und gute Anlagen des Menschen, zerstört. Entscheidenden Einfluss auf die Dystopie hatte die Weltwirtschaftskrise der 1920er-Jahre, das Aufkommen von Faschismus und Bolschewismus (und später: Stalinismus) sowie die beiden Weltkriege. Das Verhältnis Utopie zu Anti-Utopie verdient besondere Aufmerksamkeit. Der Autor Stephan Meyer analysiert diese Beziehung exzellent:
Grundmerkmal anti-utopischen Denkens ist ein sich jeweils mehr oder weniger stark artikulierendes Unbehagen am Utopischen, das fein nuanciert von utopiekritischen bis zu Utopien schlechthin negierenden, im eigentlichen Sinne »gegenutopischen« Haltungen schwankt. Dabei zeigt sich im Kern, dass die Anti-Utopik nicht im ureigensten Sinne »utopiefeindlich« ist. Gerade die »Negation des Negativen«, die ja auch als Folie jeder Utopie gilt, motiviert auch Anti-Utopisten zu ihren Werken.
Der Autor Krishan Kumar führt weiter aus, dass Utopie und Anti-Utopie sich nicht symmetrisch oder gar sich gleichauf gegenüberstehen. Die Anti-Utopie bewertet er als Reaktion auf die Utopie. »Utopia is the original and anti-utopia is the copy […].« Als ob er dieses ergänzen wolle, führt Chad Walsch aus: »When I say that Utopia has failed, I mean simply that the 20th century has cruelly disappointed the expectations of the 19th century. When I say that Utopia has succeeded, I mean that many things that seemed utopian a century ago have come to pass – but the result is not utopian.« Eine der psychologischen Hauptstrategien der Anti-Utopik besteht darin, einstmals utopische Ideale umzudeuten und die verheißungsvollen Zukunftsvorstellungen in anderem Licht wiederzugeben. Das Ursprungsdilemma der Utopie beschreibt der Autor John Carey: »This is the dilemma that confronts all utopian projects. They aim at a new world, but must destroy the old«
Die Kritik der Anti-Utopie an der Utopie beziehungsweise deren Anachronismus bezieht sich auf die Spannung zwischen dem allmächtigen Staat und dem ohnmächtigen Individuum. Konträr stehen sich der Staat mit seinem Ethik- und Moralmonopol und das Individuum »als Träger eines autonomen Gewissens […] unversöhnlich gegenüber.«
Lyman Sargent beschreibt Utopien als Gegenbild eines Jahrmarkt-Spiegelkabinetts. Diesem ist es möglich, ein erfreuliches, aber auch ein erschreckendes Abbild der Realität dem Betrachter zuzuwerfen. Menschen in ihrer Funktion als Leser, der eigenen Subjektivität unterworfen, können Utopien dystopisch oder sogar Dystopien utopisch bzw. eutopisch deuten bzw. erfahren. Oft sehen Anti-Utopien die (höllische) Zukunft schon verwirklicht, während Utopien erst ihren Blick weit ins Kommende schweifen lassen: Dabei wird klar, dass Anti-Utopisten gerade in der Suche und Verwirklichung des Utopischen die eigentliche Gefahr sehen. Der Kernsatz dieses Denkens könnte lauten: »All utopias […] express the tyranny of the idea. However noble their aims, they must by their very principle crush the individual human will and abolish freedom.«
Die drei bekanntesten Dystopien des 20. Jahrhunderts sind ›Wir‹ (1920) von Jewgenij Samjatin, ›Brave New World‹ (1932) von Aldous Huxley und ›1984‹ (1949) von George Orwell. Besonders zu letzterem Titel gibt es eine enorme Bandbreite an Publikationen. Samjatins ›Wir‹ schildert die Geschichte einer gescheiterten Insubordination. Der Konstrukteur D-503 (persönliche Namen gehören in ›Wir‹ der Vergangenheit an) lebt im »Einzigen Staat« im 26. Jahrhundert. D-503 ist ein gefügiger Staatsbürger, der sein konformistisches, technisch-mathematisches Leben nicht hinterfragt. Erst I-330, eine Konspirantin, weckt in D-503 den Individualismus und Widerstandsgeist. Per Gehirnoperation allerdings wird dieser gegen Ende des Romans vollständig ausgelöscht. D-503 reiht sich wieder in die gesichtslose, total kontrollierte und zugleich kontrollierbare Menschenmasse ein. Der russische Philologe Alexej Swerew merkt an, dass Samjatin als der Schriftsteller gilt, der »frühzeitig die Merkmale der totalitären Lebensordnung erkannten, die auf verschiedenen Breitengraden Realität werden sollten.« Gemeinhin wird angenommen, dass Huxley ›Wir‹ nicht kannte, als er seine »Brave New World« erarbeitete. Huxleys Roman spielt in dem fiktiven Jahr »632 nach Ford« angesiedelt (die Zeitrechnung wird nach dem ersten Auto-Modell Henry Fords berechnet) und kann als ökonomische Negativ-Utopie bezeichnet werden. Beschrieben wird eine Welt, welche sich vor allem durch absolute und perfekte Wirtschaftlichkeit auszeichnet.
Das Wohl dieser Gesellschaft ruht auf drei Säulen: wirtschaftliche Prosperität (Henry Ford), Gemeindenken (Karl Marx) und Wissenschaftsgläubigkeit (Sigmund Freud), deren positive Beiträge zum wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und bewusstseinsmäßigen Fortschritt der Menschen pervertiert werden: Es herrscht Individualität ausmerzende Oligarchie. Konsum ist die Handlungsmaxime; sexuelle Massenstimulierung sowie die staatlich-gelenkte Verteilung von Drogen ergänzen sich zu einem perfekten Kontrollmechanismus. In diese schöne neue Welt platzt jedoch ein Besucher aus einem Wildreservoir fern der Metropolen. Der »Wilde« Michel wuchs unter für Stadtbewohner völlig absurden Umständen auf: In seiner Figur kulminieren die Konflikte aus dem Zusammenprall von zwei verschiedenen Welten und Wertesystemen. Michel zerbricht schließlich an diesem Antagonismus und wählt den Freitod.
Die populärste wie einflussreichste Anti-Utopie dürfte jedoch ›1984‹ von George Orwell sein. Orwells Romanprotagonist Winston Smith lebt im Jahre 1984 in England, einem Teil des Megastaates Ozeanien. Ozeanien befindet sich seit 25 Jahren in Dauerkrieg mit den beiden anderen Großstaaten Eurasien und Ostasien. In England (das mittlerweile die Bezeichnung »Airstrip One« trägt) herrscht der sogenannte »oligarchische Kollektivismus«: Alle freiheitlich-demokratischen Rechte wurden abgeschafft. Eine winzige Führungsriege, die Spitze der einzigen dominanten Partei, sichert ihre Macht durch einen lückenlosen Unterdrückungs- und Überwachungsapparat. In diesem Klima der Angst und Tristesse entwickelt das niedere Parteimitglied Winston Smith einen eigenen Willen. Er beginnt, ein Tagebuch zu verfassen (was ein sogenanntes »Gedanken-Delikt« darstellt) und geht eine Liebesbeziehung ein. Er möchte weiterhin Kontakt zu einer sagenumwobenen Widerstandsgruppe schließen. Doch die Staatsmacht handelt: Smith und seine Geliebte Julia werden festgenommen, inquiriert und gefoltert – am Ende steht für beide das Dasein als zerstörte, identitätslose Hüllen. Orwell schildert »die Aushöhlung unserer Sprache durch die Phrase, die Reduzierung auf die bloße Matrize einer ideologischen und technischen Uniformität sowie die schizophrene Doppelzüngigkeit einer Epoche, der Zynismus und Lüge als psychologisches Machtmittel dienen.« Orwell orientiert sich in seinem Werk an den Phänomenen des Stalinismus und des Nationalsozialismus. ›1984‹ sollte laut Orwell aber auch eine Warnung davor sein, welche machtpolitischen Exzesse in England möglich wären im Zuge des Kampfes gegen den verhassten Stalinismus. Orwells ›1984‹ kann als politische Aufforderung gelesen werden, den Anfängen von totalitaristischen Tendenzen zu wehren.
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Auf dem Weg in eine dystopische Gesellschaft?
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