Zeitenwenden stellen den Blick auf die Zukunft besonders auf die Probe: An der Schwelle zum 20. Jahrhundert verlor der utopische Fortschrittsglaube an visionärer Kraft: Dystopien oder »Schwarze Utopien« wurden zu dominanten Spielarten der Utopie. Gründe für das vermehrte Auftreten dieser Negativ-Utopien waren vielfältig. RUDOLF INDERST blickt anhand dreier großer Anti-Utopien auf die Themen Technik, Geschlechterbeziehung und Herrschaft um Funktionsweisen dystopischer Literatur auf den Grund zu gehen (Fortsetzung des TITEL-Artikels vom 26.09.2020)
Zentrale Elemente der literarischen Dystopien sind in den älteren positiv-intendierten Staatsromanen angelegt und enthalten. Negativ-Utopien zielen nun jedoch reversiv auf das Verhältnis von Gesellschaft bzw. Kollektiv und Individuum. Während früher eine Art der Versöhnung zwischen den beiden Polen festzustellen war, wird das Individuum nun bedrängt, verfolgt und ausgelöscht. In Francis Bacons ›Nova Atlantis‹ wurde davon ausgegangen, dass Technik als emanzipatorisches Mittel zur Abschaffung von Armut und Unbildung führt. Bacons Schrift strotzt nur so vor Technik-Euphorie und der Autor selbst kann durchaus als Urvater der heutigen Science-Fiction gedeutet werden.
Doch diese Idee degeneriert: Technik wird zu einem Herrschaftsinstrument. Arbeit selbst wird oft eindimensional: Durch Zwang abgerichtete, entrechtete Menschen werden zu Teilen einer gigantischen Maschine. Aufschlussreich ist auch der Faktor der Geschlechterbeziehung innerhalb dystopischer Werke.
Während Huxley und Samjatin zügellose Promiskuität, mithin Sex ohne Emotionen, beschreiben, konstruiert Orwell die Familie als zweckgebundene Institution: Zum einen soll für Nachwuchs für den allmächtigen Staat gesorgt werden, zum anderen dient die Familie als kleinstes, internes Spitzelnetzwerk zur gegenseitigen Überwachung der Familienmitglieder. Der Politikwissenschaftler Richard Saage erkennt dahinter ein System:
Die staatstragende Schicht dient – in Abgrenzung zu den ersten Generationen von Utopien – nicht länger dem Allgemeinwohl der Gemeinde, viel mehr ist diese an der Machterhaltung zum Selbstzweck mit allen Mitteln interessiert. Doch über diese Differenzen hinaus existieren auch Ähnlichkeiten. Trotz der Schilderung von ausweglosen, tristen Welten, glaubt Swoboda, dass Utopien und Anti-Utopien in ihrer Intention in dieselbe Richtung zielen:
Saage gibt weiterhin zu bedenken, dass die Lesart dieser Dystopien auch sein könnte: Der Manipulation des Menschen durch den totalitaristischen Staat sind Grenzen gesetzt. Samjatin, Huxley und Orwell wollen hauptsächlich eine Vermeidung propagieren – alleine zu diesem Zweck wird eine schreckliche, alternative Realität entworfen.
Oft regten Utopien an, durch die Abschaffung von Privateigentum eine egalitäre Verteilung von Besitz zu erzeugen. Die orwellsche Umdeutung dieser Idee führt zu Besitzhäufung bei der Parteioligarchie. Künstlich kreiert die Staatsführung Mangel, um durch kleine Gefälligkeiten Loyalität zu erzeugen. Utopische Entwürfe sollten sich im 20. Jahrhundert – abseits von Samjatin, Huxley oder Orwell – weiterentwickeln. Zwar war die Personifizierung des Bösen in der Person Adolf Hitlers 1945 in der Katastrophe, die er selbst eingeleitet hatte, umgekommen, aber die Detonationen von Atombomben über Hiroshima und Nagasaki hatten neue Ängste ausgelöst. Der Kalte Krieg, die martialischen Auseinandersetzungen zwischen Nord- und Südkorea von 1950 bis 1953 oder die Kubakrise im Jahre 1962 machten die Furcht vor einem Dritten Weltkrieg zu einem bestimmenden Thema der Utopieliteratur.
Saage betitelt die Utopien-Generation nach Orwells ›1984‹ mit dem Begriff »postmateriell«. Diese Utopien seien auf den ersten Blick der klassischen Utopientradition verhaftet. Allerdings habe die postmaterielle Utopie den Anspruch verloren, der Mensch sei durch Aufklärung zu kommutieren. Ralph Porzik analysiert dazu:
Abgesehen von der Angst vor einem globalen Nuklearkrieg beschäftigen sich Utopien mit Themen wie etwa Umweltdevastation, der Einfluss der Marktwirtschaft oder Geschlechterfragen. Vertreter dieser neuen Utopierichtung sind etwa Burrhus Frederic Skinner, Ernest Callenbach, Ursula Le Guin und Margaret Atwood sowie Huxleys ›Island‹ von 1984.
Saage entdeckt eine Reihe von Gemeinsamkeiten der Werke dieses neuen Utopietypus’. Er stellt fest, dass säkularisierte Vernunft alleine oftmals nicht in der Lage ist, Konsens zu stiften. Ein Rückgriff auf Religion ist die Folge. Auch nimmt die Ökologie einen zentralen Stellenwert ein. Ein (Re-)Naturalisierung der Utopie ist zu beobachten. In diesen Entwürfen ist das gute Leben in kleinen, ländlichen Verbänden gesichert. Das könnte den Zerfall und das Ende der Nationalstaaten bedeuten.
Eine gebremste Ökonomie hat Vorrang vor ungezügeltem Wirtschaftswachstum: Dezentralisierung erscheint als geeignetes Mittel. Während Technik und Natur in Einklang stehen, werden auch die Grenzen zwischen Arbeit und Muse verwischt – ebenso scheint es obsolet, zwischen Privatsphäre und Arbeitsalltag zu trennen. Damit ist schließlich ein Trend zur Rückkehr zu Raum-Utopien zu beobachten.