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Blind

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Blind

Wie Teiresias sich zu leben vorgestellt hätte, wissen wir nicht, er hatte ja keine Wahl, so war das, genau so, ihm wurden enge Grenzen gezogen und harte Pflichten auferlegt, die, so darf zurecht vermutet werden, sich im Endeffekt jedesmal als beschwerlich erwiesen, als ein undankbares Geschäft, man kennt das, er enthüllte Wahrheiten, die den Lebenswandel vieler Mitmenschen als Lüge entlarvten, als einen törichten Selbstbetrug um so mancher bequemen Gewohnheit willen.

Als Kind war ihm an einer entlegenen Quelle in den Blick getreten, was er nie hätte sehen dürfen, die badende Göttin Pallas Athene, keine Chance, null, seitdem nahm das Geschehen seinen Lauf, sie legte ihm ihre Hände auf die Augen, seitdem war er blind.

Teiresias

Doch Chariklo, die Gefährtin der Athene und Gattin des Zentauren Chiron, war erzürnt, sie wehrte sich gegen eine so grausame Vergeltung, der Knabe sei schuldlos, und der Gefährtin zuliebe, erweicht, überließ die Göttin dem Teiresias einen Stock aus Kornelkirschholz, mit dem er wie ein Sehender voranschritt – in anderen Überlieferungen heißt es, er werde von einem Knaben geführt –, sie reinigte ihm die Ohren, so daß er außer dem Flug der Vögel auch ihre Stimmen verstand, und überdies weihte sie ihn zu einem Wahrsager, als solcher wurde er respektiert und genoß hohes Ansehen. Das alles fiel ihm zu wie ein Geschenk, ein Danaergeschenk, um das er keineswegs gebeten hatte, doch was konnte er tun.

Als eine andere Version seiner Erblindung wird erzählt, daß er zwischen Zeus und Hera habe schlichten sollen, von vornherein ein aussichtsloses Unterfangen, wer wüßte das nicht, und um die harte Strafe zu lindern, habe Zeus ihm siebenfache Lebensdauer zugesprochen, und er werde, wie ihm Persephone versicherte, sein waches Bewußtsein sogar in den düsteren Abgründen des Hades bewahren – doch glücklich, so wird überliefert, sei er durch diese Gaben nicht geworden, ob er wollte oder nicht, ihm blieb keine Wahl, er tat seine Pflicht, er erfüllte den Auftrag.

Zu Tode kam er, als er, von langer Wanderung ermattet, aus der Quelle Tilphussa trank, aus der zu trinken den Menschen strikt untersagt war, davon, heißt es, habe er nicht gewußt, darf man das glauben, oder seine Erschöpfung, auch das wird erzählt, sei so immens gewesen, daß er überstürzt und ohne einen klaren Gedanken zu fassen vom sprudelnden Quellwasser trank, nein, auch das ist zweifelhaft, wie kann das sein, dieser Tod bleibt ein Rätsel – über den wahren Grund, heißt es insgeheim, werde Stillschweigen gewahrt, denn er stelle den Göttern ein wenig günstiges Zeugnis aus.

Doch was für ein Leben! Er bleibt unvergessen, er durchschaute die Verirrungen des Oidipus, und noch im Hades suchte ihn Odysseus auf, dem er dessen lange Irrfahrt vorhersagte.

Was für ein Leben! Er wäre ein Popstar, er träte bei Anne Will auf, bei Markus Lanz und wüßte um die vergangenen Ereignisse so gut wie um die künftigen Verstrickungen in Unheil und Verhängnis, ohne sie geringsten ändern zu können, denn einzugreifen, das war ihm versagt, während des erbitterten Disputs mit Oidipus hatte er lange geschwiegen, allein die unerschöpfliche Kraft der Wahrheit verlieh ihm hinreichend Mut, und es wäre denkbar, nicht wahr, auch den Oidipus einzuladen zur Will, oder Marietta Slomka arrangierte ein Interview, die Medien sind allem Geschehen stets auf den Fersen, und sogar Oliver Welke oder der Heißsporn Böhmermann mochten Interesse bekunden.

Hatte denn das delphische Orakel nicht eindringlich genug davor gewarnt, den Oidipus überhaupt zu zeugen, doch was konnte man tun, er war deshalb vorsorglich als Säugling ausgesetzt worden, man kennt die Geschichte, wurde jedoch gerettet, in Korinth erzogen, er erschlug, wie vom Orakel vorhergesagt, unwissentlich den eigenen Vater, allein das wäre schlagzeilenträchtig und eine Gesprächsrunde in den Öffentlich-Rechtlichen wert, er gewann, da er das Rätsel der Sphinx gelöst hatte, den Thron zu Theben und wie vorhergesagt die Hand der Königin Iokaste, seiner eigenen Mutter – diese Verstrickungen werden durch den Auftritt des Teiresias enthüllt, das Vergangene wird zurechtgerückt, die Konsequenzen sind erschütternd, Iokaste begeht Selbstmord, Oidipus blendet sich – Übermut pflanzt Gewalt./ Wenn törichter Hochmut/ Sich maßlos berauscht an/ Schamlosen, sinnlosen Taten,/ Verwegnen Gipfel erklimmt,/ Stürzt er jählings herab.

Was für ein Leben! Teiresias wird sich von Anfang an fehl am Platz gefühlt haben, nicht allein im Dialog mit Oidipus, sondern generell so, als ob er nie angekommen wäre im Leben, als hätte sich nie eine Gelegenheit geboten, Wurzeln zu schlagen, wo fände er einen Ort, sich zuhause zu fühlen – ihre erwähnte Begegnung verlief wenig unterhaltsam, wie sollte sie denn, und Teiresias weigerte sich vehement, auf die drängenden Fragen des Oidipus, der ja um die schrecklichen Umstände nicht wußte, zu antworten, er wich den Fragen aus, er mußte sich verspotten lassen, der Disput war heftig, Teiresias wußte, wie dieser Auftritt für Oidipus enden würde, hielt sich lange zurück, und erst der Zorn löste ihm die Zunge, ich erwähnte es, die Gegenwart brach ein wie eine windschiefe Fassade, wie kommt jemand da wieder heraus, sie war ihrer tragenden Säulen beraubt.

| WOLF SENFF
| Titelbild: Henry Fuseli (1741–1825): Theresias erscheint dem Ulysseus während der Opferung (zw. 1780 and 1785) (PD)

[Fremdtext aus: Sophokles, Oidipus]

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Mit stolzgeschwellter Brust nennt er seine Gegenwart Neuzeit, sich selbst kühn einen Homo sapiens und nimmt dennoch die vernichtenden Abläufe nicht wahr.

Wie ist das möglich, Gramner?

Der Mensch kann die Augen schließen, rein physisch, die Lider herunterklappen, Augen zu, und allem Anschein nach ist sein Geist ähnlich eingerichtet, seine Wahrnehmung kann hellwach, doch kann auch auf Null geschaltet sein.

Und wovon soll das abhängig sein?

Das ergibt Sinn, oder? Vor einem Anblick, der ihn quält, schließt er unwillkürlich die Augen, und auch seine Wahrnehmung sperrt sich gegen bestimmte Dinge, er tabuisiert sie.

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